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barfuß


Ein Buch von


Gerhard Winter

 

Intro 2014




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Liebe Leserin, lieber Leser,

 

das Buch „barfuß“ erschien im Jahr 1992. Mittlerweile ist es vergriffen. In den letzten Jahren bin ich immer wieder ermuntert worden, „barfuß“ im Internet neu aufzulegen. Das ist hiermit geschehen.

Bis auf wenige Umstellungen, die den Eigenheiten des Mediums Internet geschuldet sind, wird der Text hier unverändert wiedergegeben. Auch die alte Rechtschreibung wurde beibehalten, was wohl niemanden stören wird.

Vielleicht interessiert es Sie am meisten, mit welchen Gefühlen, Fragen und Hoffnungen ich heute, nach 22 Jahren, auf diesen Text zurückblicke. Dann sollten Sie mit dem „Epilog: 22 Jahre später“ beginnen.

Und wenn Sie selbst etwas beitragen oder mit mir Kontakt aufnehmen wollen: Zögern Sie nicht, mir eine E-Mail (an gerhardw@mur.at) zu schicken. Die Arbeit an der Internet-Ausgabe von „barfuß“ geht weiter! Reaktionen werden gesammelt und hier zeitnah eingebaut. Es könnte sich also lohnen, beizeiten wieder vorbeizuschauen!

Viel Spaß beim Lesen! – Gerhard Winter

 

Inhalt




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Vorwort




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„Wir leben im Anfangsstadium der ersten globalen Revolution auf einem kleinen Planeten, den zu zerstören wir offenbar wild entschlossen sind.“ So die Einschätzung der Lage durch den Club of Rome. Ausweichend ist vom Planeten die Rede, denn wir verdrängen, daß wir selbst es sind, denen die Zerstörung gilt.  W i r  werden nicht überleben, wenn wir so weitermachen. Den Planeten wird es noch lange geben, und er wird wohl auch noch Leben tragen, wenn wir nicht mehr sind. Die Frage ist: Wie wild ist diese Entschlossenheit, uns selbst zu zerstören? Ist es überhaupt Entschlossenheit oder bloß Gedankenlosigkeit, Unwissenheit? Oder sind uns die Folgen unseres Tuns zwar durchaus bewußt, aber wir haben uns entschlossen, lieber noch ein paar Jährchen den Planeten zu plündern als uns einzuschränken, um unseren Kindern noch eine Chance zu lassen? Vielleicht sind es ja auch erst die Ur-Urenkel, die die letzte Konsequenz zu tragen haben. Auch diese Haltung ist – wenn auch selten offen eingestanden – durchaus anzutreffen. Weitaus verbreiteter ist aber wohl die Resignation: „Was kann ich schon ausrichten? Es ist doch alles vergebens!“ – Ist es das wirklich? Wie steht es wirklich um unsere Chancen? Welcher Natur ist diese erste globale Revolution, in deren Anfangsstadium wir uns befinden? Wie wird sie sich entwickeln? Wird sie letztlich zu einer Revolution, die zu unserer Selbstzerstörung führt, oder die auch künftigen Generationen die Lebensmöglichkeit sichert? Werden Ängste, Haß und Gewalt überwiegen oder Hoffnung und Zuversicht und die Liebe zum Leben? Wird es eine lebensfeindliche oder eine lebensfreundliche, eine biophile Revolution?

Diesen Fragen versuche ich nachzugehen auf den verwobenen Pfaden, die durch den Dschungel der Zusammenhänge führen. Ich tue das ohne jede fachliche Legitimation, ausgestattet nur mit jener Kompetenz, über die jeder verfügt: dem Vertrauen in die eigene Urteilskraft oder, wenn man so will, den Hausverstand. Es ist ein sehr persönliches Buch ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit, auf Verbindlichkeit. Es ist mein Versuch, einen Beitrag zu leisten, daß die Revolution eine biophile werde.

 

Denkanstöße




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Begonnen hat die ganze Sache eigentlich viel früher. Nicht erst an dem Tag, an dem ich den – wie sich bald herausstellen sollte – untauglichen Versuch unternahm, mich und meine ganze Barfuß-Idee ernst und vor allem allzu wörtlich zu nehmen.

War es das Märchen von dem Verkäufer, der versuchte, dem Elch eine Gasmaske zu verkaufen, und der, als ihm der Elch erklärte, er habe keinen Bedarf, die Luft sei vorzüglich, und schließlich lebten die Elche, soweit er sich zurückerinnern könne, ohne Gasmasken, eine Fabrik baute, die einen bestialischen Gestank verbreitete, sodaß der Elch bald bei ihm erschien, um auf das freundliche Gasmasken-Angebot zurückzukommen. Als der Elch ein gutes Dutzend Gasmasken für seine Familie erstanden hatte, fragte er den Verkäufer, was er denn in dieser stinkenden Fabrik erzeuge, und erhielt zur Antwort: Gasmasken.

Ein Märchen? Natürlich. Ein Märchen. Zumindest hat die Geschichte eines mit guten Märchen gemeinsam: den wahren Kern.

Da lese ich doch in einer namhaften deutschen Zeitung eine Anzeige, in der einem Geschäftspartner, der über DM 250.000 und Erfahrung im Marketing verfügt, 6-stellige Gewinnsummen versprochen werden. Das Produkt, das es zu vermarkten gilt und das bald zur Standardausrüstung eines jeden bundesdeutschen Haushaltes gehören wird: eine Wasseraufbereitungsanlage. Also, wenn ich das Patent auf dieses Produkt habe, wünsche ich mir nur noch eines: vergiftete Brunnen!

Oder war es dieser Fernsehbericht von einem Ziegelwerk, das von den Betriebsangehörigen kollektiv geführt nicht nur wirtschaftlich erblühte, sondern auch wahre Sozialutopien wie freie Wahl der Arbeitszeit, bezahlten Bildungsurlaub und dergleichen mehr in die Tat umsetzte, sodaß ein hoher Gewerkschaftsfunktionär dazu befragt erklärte, an solchen Entwicklungen sei die Gewerkschaft nicht interessiert, denn diese Arbeiter seien nicht mehr dazu zu bewegen, für eine Solidaritätskundgebung auf Lastkraftwagen zu klettern. Was mich wiederum zu folgender gewiß unzulässigen Deutung seiner Aussage brachte: Uns interessiert unsere Macht, und die beruht auf dem Heer von Arbeitern, das wir auf die Straße schicken können. Geht es den Arbeitern zu gut, so hört das auf zu funktionieren. Also reden wir von der Humanisierung der Arbeitswelt, aber wir werden uns hüten, sie durchzusetzen.

Oder hat es mit der Ölkrise begonnen? Als ich Schwierigkeiten hatte, die verordneten Sparmaßnahmen wie „Autofreier Tag“ mit der Tatsache in Einklang zu bringen, daß die Werbung der Mineralölfirmen während der ganzen Krise unvermindert weiterlief? Da stellt man sich schon mal die Frage: Worum geht es eigentlich? Um eine Versorgungskrise? Oder darum, wie man das Öl an den Mann bringt? Oder geht es vielleicht gar darum, die Bereitschaft zu wecken, für eine Mangelware eben mehr zu zahlen? Ich werde Wirtschaft nie verstehen!

Hat das Ganze vielleicht mit der Diskussion um die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf begonnen, als so viel vom Strombedarf die Rede war und von den Anstrengungen, die eben erforderlich seien, um den Bedarf decken zu können? Zu eben dieser Zeit bekam eine Bekannte von mir auf ihr Ansuchen, einen elektrischen Nachtspeicherofen installieren zu dürfen, von der Elektrizitätsgesellschaft den Bescheid, dies sei nur möglich, wenn sie ihren Kachelofen abtragen ließe. Welchen unzulässigen Schluß ich daraus gezogen habe, erspare ich Ihnen. Sie ahnen es ohnehin.

War es vielleicht dieses Werbeplakat der E-Wirtschaft mit dem Text „Sollen wir mit Zwentendorf warten, bis die Arbeitsplätze wackeln“? Es sollte wohl zweierlei suggerieren. Erstens: Die Inbetriebnahme sei ohnehin unvermeidlich. Man nennt so etwas gerne auch Sachzwang und rückt es damit in die Nähe von Schicksal, in das man sich eben zu fügen habe. Zweitens: Atomstrom und Arbeitsplätze hätten irgendetwas miteinander zu tun.

Beides hat sich wohl als unzutreffend herausgestellt. Inzwischen sind unsere österreichischen Politiker allesamt AKW-Gegner und rühmen sich mit unserer niedrigen Arbeitslosenrate. Es ist schon erstaunlich, was dabei herauskommt, wenn ein Volk sich nicht durch Suggestivfragen irreleiten läßt und anders entscheidet, als höherenorts geplant. Das ist wohl auch der Grund, weshalb ihm so selten Gelegenheit dazu geboten wird.


Die Österreichische Industriellenvereinigung hat, offensichtlich in Sorge um die Heranbildung zuverlässiger Konsumenten, ein Meinungsforschungsinstitut mit der Aufgabe betraut, herauszufinden, welcher Geisteshaltung eigentlich die Lehrer seien. Das Ergebnis fand ich in einer Wochenzeitschrift. Es war vernichtend: Die Lehrer seien – man beachte die Steigerung ins Negative! – subversiv, technikfeindlich und grün. Was ich an der Geschichte so köstlich finde ist, daß sie offensichtlich stimmt.

In der Tat haben die meisten Lehrer erkannt, daß ein auf Wachstum begründetes Wirtschaftssystem auf einem endlichen Globus, wie ihn unsere Erde nun einmal darstellt, auf Dauer nicht funktionieren kann. Sie haben erkannt, daß die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und wachsender Umweltzerstörung noch lang nicht gelungen ist. Sie haben erkannt, daß der materielle Reichtum der Industrieländer auf einem Umgang mit der Dritten Welt beruht, der der Sklavenhaltung nahe kommt. Und sie haben erkannt, daß dieses System auf Dauer wohl auch militärisch nicht abzusichern ist. Da ist mir ein Lehrer schon recht, der subversiv ist, der dieses System verändern will.

Und technikfeindlich sind sie auch. Sosehr sie einen sanften Einsatz aller verfügbaren technologischen Möglichkeiten auch begrüßen mögen, sind die meisten doch nicht Anhänger des Machbarkeitsprinzips: Nicht alles, was technisch machbar ist, erscheint ihnen auch sinnvoll. Gott sei Dank!

Und schließlich sind sie grün, denn es ist den meisten bewußt, daß die ökologische Frage, mag sie sich zur Zeit auch noch als Frage der Lebensqualität darstellen, nur allzubald zu einer Lebensfrage, zur Existenzfrage schlechthin, zu werden droht.


Aber ich versuche noch zu ergründen, womit das Ganze begonnen hat. Da bin ich irgendwo auf das Wortpaar „Bedarfsdeckung – Bedarfsweckung“ gestoßen. Und mit einem mal wurde mir bewußt, was sich da in den letzten fünfzig Jahren in unserer Gesellschaft abgespielt hat. Mit der Bedarfsweckung hat die Sache wohl begonnen, ungesund zu sein. Heute lautet die Frage ja längst nicht mehr: Was braucht der Mensch für ein sinnerfülltes Leben in Würde? Sie heißt: Wie bringt man den Menschen zu noch mehr Konsum, ob er sich’s nun leisten kann oder nicht. Zentrales Mittel ist die Werbung. Eine Untersuchung hat ergeben: Allein in Österreich werden für Werbung jährlich nahezu 10 Milliarden Schilling ausgegeben. Die Umsätze, die indirekt mit der Werbung zusammenhängen, werden auf rund 60 Milliarden geschätzt. Eine Summe, die den gesamten Pensionszahlungen eines Jahres nahekommt. Und das alles völlig unproduktiv und zum Ärgernis derer, die es über sich ergehen lassen müssen. Da fallen mir nur noch die zwei Narren ein, die den Sonnenuntergang betrachten und resigniert feststellen: Für das haben sie ein Geld, aber daß sie unser-einen studieren ließen, nein! Jedenfalls habe ich versucht mir vorzustellen, was wäre, wenn ein Finanzminister erklärte: Von nun an sind Ausgaben für Werbung nicht mehr von der Steuer absetzbar, sondern im Gegenteil, sie werden besteuert.

Zunächst würde das zu einem Konsumrückgang und zu einem Gesundschrumpfen der Wirtschaft führen und damit zu einer ökologischen Entlastung. Es träfe ohnehin nur die krisenanfälligsten Branchen, denn was wirklich gebraucht wird, bedarf keiner Werbung. In der Folge käme es zu einem Rückgang der zu leistenden Arbeit. Der Verdienst würde zurückgehen, aber man würde ja auch weniger brauchen.

Mehr Freizeit würde bedeuten: Zeit, um sich mit Freunden zu treffen, um dem Nachbarn zu helfen, um das Wohnen selber zu gestalten, statt von der Stange zu kaufen, um den Wasserhahn zu reparieren, Musik zu hören, zu lesen, nachzudenken oder Marmelade einzukochen. Mehr Selbsthilfe, mehr Sozialleben, mehr Kulturleben, mehr innerer Reichtum, mehr Sinnbefriedigung.

Ob nun die Besteuerung der Werbung eine sinnvolle Wirtschaftslenkungsmaßnahme wäre, ist wohl eine ebenso interessante wie müßige Frage. Müßig jedenfalls, solange man sich von einem Finanzminister auch nur einen zaghaften Vorstoß in diese Richtung erwartet. Die meisten Finanzminister sind es nämlich gerne und haben keine Lust, in eine noch so fürstliche Pension geschickt zu werden. Mein Schluß war also: Von oben ist an Veränderung nichts zu erwarten. Politiker sind Systemagenten und müssen es sein. Aber sie sind auch die ersten, die eine noch so alte Idee als ihre eigene verkaufen, wenn sie erst einmal dazu gezwungen werden. Und das werden sie, wenn die Gefahr droht, Wähler zu verlieren.


Aber wie gesagt: Auch diese Überlegungen standen nicht am Anfang.

War es vielleicht die Diskussion mit 13-jährigen Schülern über die Sinnhaftigkeit dessen, was sie da alles zu lernen hätten? Als schier nichts Brauchbares übrigbleiben wollte, sagte mir doch eine Schülerin: „Es ist wichtig, daß ich das alles lerne, weil dann kann ich später meinen eigenen Kindern bei den Schulaufgaben helfen.“ In dieser Deutlichkeit war’s mir neu, das Beharrungsvermögen von Unsinn: Wenn es schon Unsinn ist, was wir da machen, so befähigt es uns wenigstens, den Unsinn fortzusetzen. Aber der Anfang war auch das nicht.

Also mache ich einen großen Sprung zurück in meine eigene Schulzeit, als ich unverhofft zu der Ehre eines ungarischen Freiheitshelden gelangte. Das war so gekommen: Es war 1956. Der Aufstand der Ungarn gegen das kommunistische Regime stand kurz vor der Niederschlagung. War es Sympathie oder Abenteuerlust? Wie immer, es reizte mehr als die Schulbank, und so bestieg ich mit einem Schulkollegen das Motorrad. An der Grenze stießen wir auf ein Kamerateam der Österreichischen Wochenschau. In einem kleinen ungarischen Ort nahe der Grenze gab’s ein umgestürztes Stalindenkmal, aber keinen Anlaß zum Jubel, denn die Panzer waren bereits in Budapest. Wie soll man da zu begeisternden Aufnahmen von der Revolution kommen? Profis wissen, was zu tun ist: Leute wurden zusammengetrommelt und um das Stalindenkmal drapiert. Und war ihnen auch nicht danach zumute, sie mußten mit erhobenen Fäusten Siegessicherheit kundtun. Eine Fahne fehlte noch. Wir organisierten eine. Und als wir damit ankamen, wurden auch wir gefilmt, – als ungarische Freiheitskämpfer, was uns einen Karzer wegen unerlaubten Fernbleibens vom Unterricht einbrachte und tiefe Zweifel an der Seriosität der Berichterstattung. Mein Freund hat inzwischen Karriere beim Österreichischen Fernsehen gemacht, was seine Zweifel an der Berichterstattung nicht gerade verringert hat. Er fragt sich mittlerweile, ob der Golfkrieg überhaupt stattgefunden hat oder ob er nur ein Medienspektakel war. Ich bin noch nicht so weit. Aber soviel habe ich gelernt: Über die Medien bekomme ich nur verschlüsselte Informationen. Will man der Wahrheit näher kommen, muß man sich schon seinen eigenen Reim drauf machen. Man muß sich die Frage stellen: Wer hat welches Interesse, eine bestimmte Information zu verbreiten. Dann wird man hellhörig. Oder höre ich das Gras wachsen, wenn ich bei der so bedeutsamen Nachrichtenmeldung, daß Österreich auf dem Hygienesektor ein Entwicklungsland sei – der Durchschnittsösterreicher wechsle nur zweimal wöchentlich die Unterhose –, auf die absurde Idee verfalle, da könnte die Waschmittelbranche dahinterstecken?

Schweife ich ab auf der Suche nach den Anfängen? Ich glaube nicht. All diese Denkanstöße sind Anfänge. So z. B. die Begegnung mit jenem langhaarigen Typ auf dem Fährschiff in Schottland. Beatle hießen sie in den 50er-Jahren bei uns, diese langhaarigen Jugendlichen, was soviel bedeutete wie Taugenichts oder Strolch. Ich stand an der Reling, blickte ins Wasser und pfiff vor mich hin. Als der Typ hinter mir vorbeikam, zog es mir die Schulterblätter zusammen. Schließlich war ein Beatle zu allem fähig. Das wußte man. Daß er allerdings sagen würde: „Oh, Prokofieff, Peter and the Wolf“, hatte ich nicht erwartet. Und dementsprechend rasselte es in meinem Hirn wie in einem Glückspielautomaten, wenn der Jackpot geknackt wird. Es ist ja auch wirklich erstaunlich, mit welchen Vorurteilen man durchs Leben geht, welche billigen Klischees man unbedacht übernimmt.

 

Die Nebel früher Kindheit




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Es sind nicht nur die Denkanstöße, mit denen so etwas wie die Barfuß-Idee beginnt. Es sind wohl die nie ins Bewußtsein gedrungenen, in tieferen Schichten aber umso wirksameren Erfahrungen der frühesten Kindheit, die darüber entscheiden, ob einem fürderhin ein Leben in Zuversicht und Selbstvertrauen beschieden ist oder eines unter Ängsten und Alpträumen. Ein Leben, in dem man die Dinge so nehmen kann, wie sie sind, oder eines, in dem man strampeln muß, um sich alles zu richten, um einer Sicherheit nachzujagen, die es gar nicht gibt, außer in einem selbst. Dieses Sicherheitsstreben hat der Tiroler Kabarettist Grünmandl in einem seiner „Alpenländischen Interviews“ treffend karikiert: Der Bewohner eines Bergwerkes antwortet auf die Frage, warum er so tief unter der Erde hause: „Ja, wissen Sie, so ein Meteor, wenn Sie der erwischt, da haben Sie keine Chance!“ Und auf den Einwand, daß ein Meteor ja eine äußerst seltene Erscheinung sei: „Ja, ja, da haben Sie schon recht, aber Sicherheit geht vor Seltenheit!“

Ich habe das Glück, schier unglaublich liebe- und verständnisvolle Eltern gehabt zu haben. Mit der Bemerkung, die Möbel seien für uns da und nicht wir für die Möbel, haben sie uns Kindern amüsiert zugesehen, wie wir den Mahagonischreibtisch in ein Hexenhäuschen verwandelten, indem wir mit Spucke Lebkuchen daraufklebten. Das war sogar zu viel Verständnis, um bei den Bekannten der Familie noch auf Verständnis zu stoßen. Als ich mit 15 meine Eltern mit dem Wunsch konfrontierte, per Anhalter quer durch Europa zu fahren – Hamburg, Paris, Mailand –, machten sie einfach Kassasturz, drückten mir das Wenige, das zur Verfügung stand, in die Hand, dazu ein paar Adressen von Bekannten, für alle Fälle eine Bestätigung, daß sie mit dieser Unternehmung einverstanden seien, etwas Wegzehrung für die ersten zwei Tage und wünschten mir viel Glück. Und ich sollte auch viel Glück haben. Den wenigen Anfechtungen, die mir widerfuhren, fühlte ich mich – vielleicht aus Naivität – gewachsen, sodaß sie mich eher amüsierten als erschreckten. Ansonsten ist mir nur Freundlichkeit, Interesse, Anteilnahme und herzliche Gastfreundschaft begegnet. Ganz natürlich, wie ich es damals empfand, denn ich hatte ja bislang nichts anderes kennengelernt. Ganz natürlich, wie ich heute zu wissen glaube, denn immer wieder stelle ich fest, daß ich, was ich erwarte, was ich suche, nicht nur finde, sondern auch fördere, provoziere, in meiner Umgebung hervorrufe. Wenn das stimmt, liegt es in meiner freien Entscheidung, ob ich gute oder schlechte Erfahrungen mache. Es liegt an mir, rund um mich herum die Anzeichen dafür zu mehren, daß mein Optimismus begründet ist, oder aber mein Pessimismus. Kurz: Der Optimist ist ein Glückspilz, der Pessimist ein Pechvogel. Tiefenpsychologen sprechen von der Außenwelt als Spiegel der Innenwelt. Wie es in mir drinnen aussieht, so erlebe ich auch meine Umgebung. Ich weiß schon, daß es so leicht nicht ist, sich umzupolen, wenn man ein Leben lang als Pessimist seine negativen Erfahrungen gemacht hat. Aber es geht. Wie, ist nur am Rande Inhalt dieses Buches. Ich will ja über die Barfuß-Idee schreiben. Und dabei geht es mir um die Frage, was können wir konkret tun, Du und ich, um unseren Globus als Lebensgrundlage zu erhalten.

Und da ärgere ich mich über diese ganze pessimistische Weltuntergangsliteratur, bei der es einem am Ende genauso schlecht geht wie dem Autor selbst. Gewiß ist die Bilanz düster bis schwarz. Aber wenn einem Autor außer dieser Diagnose auf 150 Seiten nichts anderes einfällt als ein paar so utopische Vorschläge wie „die Regierungen der Industrieländer müßten beschließen, daß ...“ oder „die Rüstungsindustrie müßte auf zivile Produkte umsteigen“, oder „die Wirtschaft müßte sich auf umweltverträgliche Produktionsweisen besinnen“, oder „man müßte die Nutzung von Sonnen-, Wind und Gezeiten-energie forcieren“, „McDonald sollte Sojabohnen statt Rindfleisch für seine Hamburger verwenden“ – man müßte, man sollte! – wenn ich das nur höre, bin ich schon sauer! Das spielt es nicht. Da kann ich gleich dem Finanzminister empfehlen, sich mit der Idee, die Werbung zu besteuern, in Pension schicken zu lassen. Vor allem aber ärgert mich, daß solch düstere Prophezeiungen, mögen sie auch in der lautersten Absicht geschrieben sein, den Leser wachzurütteln, die gegenteilige Wirkung haben: Er wird angesichts der Hoffnungslosigkeit, etwas Sinnvolles gegen die Bedrohung zu unternehmen, in Resignation und Lethargie verfallen. Und mit jedem Leser, dem es so ergeht, wird die düstere Prophezeiung wieder etwas wahrscheinlicher.

Ich erinnere mich nur zu genau, wie deprimiert ich war, als ich mit zunehmendem Einblick in die Mechanismen unserer Wirtschaft und Politik auch die Eigendynamik zu sehen begann, die solche Systeme entwickeln, die Sachzwänge, die sie sich selber schaffen, und wie ich die Unmöglichkeit zu erkennen glaubte, als Normalbürger auch nur den geringsten Einfluß auf den Lauf der Dinge zu nehmen, war er doch selbst den großen Lenkern der Geschicke längst entglitten!

Und dann noch dieser Hang mancher Autoren, die düsteren Zukunftsvisionen auch gleich mit den entsprechenden Schuldzuweisungen zu garnieren, den „Schuldigen“ jedes Verantwortungsbewußtsein und jede Moral abzusprechen und so Feindbilder aufzubauen, wie Multis, Betonierer, Lobbies, sodaß sich beim Leser zur Verzweiflung noch die blinde Wut gesellt. Beides sind keine guten Ratgeber, wenn’s darum geht, sich ein gesünderes Leben zu organisieren.

Mag sein, daß Du den Eindruck gewonnen hast, ich hinge selbst diesem Feindbilddenken an. Ich denke, Du wirst im Verlauf dieses Buches erkennen, daß dem nicht so ist. Mir geht es natürlich darum, Sachverhalte, Zusammenhänge, Mechanismen zu erkennen und zu erkunden, welche Kräfte wie stark in welche Richtung ziehen. Solche Einsichten sind ja doch die Voraussetzung dafür, um sinnvoll tätig werden zu können, z. B. mit der Barfuß-Idee. Aber mir geht es auch um die Einsicht, daß Menschen, die die Dinge anders sehen, die andere Ziele verfolgen als ich, nicht gleich schlechte Menschen sein müssen oder dumme.

Vielleicht sagt es die Geschichte von den drei Freunden am besten, die darüber in Streit gerieten, ob ein Wassertropfen, den sie in der Sonne glitzern sahen, grün, rot oder orange leuchte. Ein Weiser, der des Weges kam und von den Streitenden als Schiedsrichter angerufen wurde, sagte: Jeder von euch hat recht. Aber um das verstehen zu können, müßte sich jeder die Mühe machen, den Standpunkt des anderen einzunehmen. Dieses Gleichnis vom Wassertropfen ist für mich zu einem zentralen Thema geworden. Ich werde noch mehrmals darauf zurückkommen.


Ich habe begonnen, Dich mit Du anzusprechen. Es ist das nicht der Versuch einer respektlosen Anbiederung. Aber mit der Anrede „Sie, verehrter Leser“ schaffe ich es einfach nicht, über die Dinge zu reden, um die es mir geht, den Ton zu finden, den ich brauche, um wirklich offen sein zu können. Es kommt ja nicht von ungefähr, daß ich die Barfuß-Idee nun schon so viele Jahre mit mir herumtrage, immer wieder mehr oder minder untaugliche Ansätze versucht habe. Wenn ich jetzt zurückblicke, bin ich froh, daß ich damit nicht an die Öffentlichkeit gegangen bin. Zwischen peinlich und tragikomisch würde ich sie heute einstufen. Aber sie waren wohl notwendig. Jede Idee braucht eben ihre Zeit, um zu reifen, die Zeit, um ihre Sprache zu finden. Ja, die Sprache. Das war das eigentliche Hindernis.

Ich hatte nie Probleme, in der persönlichen Begegnung die Sprache zu finden, eine Sprache, die Brücken baut. Und so bin ich auch immer wieder auf großartige und liebenswerte Menschen gestoßen, in allen Schichten, allen politischen Lagern und allen Berufen. Gescheite Menschen, die etwas vom Leben verstanden, wie die Gemüsefrau am Markt, die mir sagte: „Ja wissen Sie, die Leute sind heute so arm, weil sie alles haben. Wie reich sind wir noch gewesen, obwohl wir nichts gehabt haben. Barfuß gegangen sind wir, auf ein Stück Brot haben wir uns noch freuen können, jedes eßbare Kräutl haben wir gekannt auf der Wies’n und im Wald. Wer weiß denn heut’ noch, wie gut Wasser schmeckt, wenn man durstig ist?“

Sicher treffe ich auch immer wieder auf Menschen, bei denen ich das Gefühl habe, ich rede mit dem Blinden von Farbe. Und doch hat jeder noch irgendwo in sich einen Winkel mit einer Sehnsucht und einer Ahnung, was das Leben ausmacht. Da kann ich den Pessimismus einfach nicht teilen. Da kann ich aber auch den stumpfsinnigen Feindbildklischees nicht folgen. Meine Lebenserfahrung spricht einfach dagegen. Und wahrscheinlich ist es gerade die Suche nach diesem Winkel in jedem Menschen, die mich immer wieder fündig macht, die mir so viele herzliche und erbauliche Begegnungen gebracht hat, daß ich bei all meinen Einsichten, daß auf dieser Welt sehr starke lebensfeindliche Kräfte am Werke sind, und bei allem Frust, der mit diesen Einsichten verbunden ist, die Zuversicht so stark empfinde.

So wenig Probleme ich hatte, in der persönlichen Begegnung die Sprache zu finden, so sprachlos war ich beim Versuch zu schreiben, Kontakt aufzunehmen mit Menschen, die ähnlich fühlen wie ich, die ich aber noch nicht persönlich kennengelernt habe. Gerade das aber war mir wichtig. Und so ermutigend die persönlichen Begegnungen auch immer waren, so unerfüllt blieb mein Verlangen, mit all den Menschen in Verbindung zu treten, die, allein mit ihren Gedanken, das Gefühl der Einsamkeit und Isolation nicht loswerden. Ich bin einfach davon überzeugt, daß hier eine ungeheure Kraft schlummert, ein gewaltiges biophiles Potential, das durch die Isolation auf’s Eis gelegt ist und nur darauf wartet, daß das Eis endlich geschmolzen wird. Entschuldige bitte den hochtrabenden Ausdruck „biophiles Potential“. Aber Du wirst gleich verstehen: Im Restaurant am Nebentisch schoppt eine Mutter ihren fünfjährigen Sprößling. Der läßt die Prozedur geduldig über sich ergehen. Auf die Frage „Na, schmeckt Dir das?“ sagt er mit weinerlicher Stimme: „Ich weiß nicht, ob mir das schmeckt oder nicht.“ Die Szene ist schon viele Jahre her. Ich habe damals das Kind für grenzdebil gehalten. Ein Kind, das nicht weiß, ob ihm das Essen schmeckt oder nicht! Inzwischen habe ich ihm oft und oft Abbitte geleistet, denn heute weiß ich, daß es so leicht nicht ist zu erkennen, was uns gut tut und was nicht, was eben biophil ist und was nekrophil, was lebensfreundlich, lebensbejahend und was lebensfeindlich, zerstörerisch. Diese Frage, was tut uns gut, und was bekommt uns nicht, ist ja gerade deswegen so schwierig zu beantworten, weil uns von kleinauf abgewöhnt wurde, auf unsere Instinkte zu vertrauen. Wie sonst wäre es zu erklären, daß ich mir gerade jetzt eine Zigarette anzünde, tief inhaliere, noch einmal, und daß mir das auch noch schmeckt? Gut tut’s mir sicher nicht! Und wie sonst wäre es zu erklären, daß ich ein dumpfes Dröhnen und Pochen vernehme und feststelle, daß sich von weitem ein Auto nähert, die Fenster geschlossen und die Stereoanlage voll aufgedreht, sodaß ich mich wundere, daß es keine Luftsprünge macht oder einfach zerplatzt. Und da drinnen sitzt ein Mensch, der findet das noch Spitze! Ob es ihm gut tut, ist eine andere Frage. Aber er ist vielleicht sogar noch bereit, auf Jahre hinaus einen schlecht bezahlten, stumpfsinnigen Job auf sich zu nehmen, um sich diesen „Luxus“ leisten zu können, oder besser gesagt den Kredit, den er dafür aufgenommen hat, mit Zins und Zinseszins abzuzahlen.

Ich mache es mir nicht so billig, daß ich sage: Radfahren ist biophil und Autofahren nekrophil. Aber wenn sich’s machen läßt: ein bißchen weniger Autofahren und etwas mehr Radfahren oder Zu-Fuß-Gehen ist schon ein ganz guter Anfang.

Sicher aber ist es nekrophil, sich auf den Weltuntergang einzustimmen, sei es nun anhand der gewiß nicht zu leugnenden Anzeichen, sei es anhand dunkelgrauer Literatur, so sachlich richtig sie auch sein mag. Andererseits ist es ebenso nekrophil, einfach wegzuschauen, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, und sich in die Illusion einer heilen Welt zurückzuziehen.

Hingegen ist es biophil, genauer hinzusehen und sich um das Verstehen zu bemühen. Erst wenn ich verstanden habe, woran es liegt, daß die Dinge eben so laufen, wird es mir möglich, wirksam gegenzusteuern. Und die Gewißheit, daß dies möglich ist, bringt auch die Zuversicht, die die Erstarrung löst und Handeln möglich macht.

 

Versuch und Irrtum




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Ich bin noch immer nicht auf den Anfang des Buches zurückgekommen, auf jene Unternehmung, mit der ich meine Barfuß-Idee allzu wörtlich nahm. Und doch weißt Du nun schon einiges: Da gibt es offensichtlich einen Menschen, der so blauäugig ist, so unbeleckt von der harten Realität des Lebens, so blind, daß er keine Ahnung hat, was auf der Welt gespielt wird, keine Ahnung davon, was Macht ist, keine Ahnung von Wirtschaftsinteressen, von Geheimdiensten, von Militärapparaten und vom politischen Intrigenspiel. Und ausgerechnet der faselt mir was von biophil und nekrophil, von Realität und Illusion, erzählt mir Geschichten aus seiner Kindheit und will mir weis machen, er wisse, wie die Welt zu retten sei. Wahrscheinlich barfuß!

Natürlich, über Macht, Wirtschaft, Großfinanz, Militär und Politik wird noch einiges zu sagen sein. Und wissen, wie die Welt zu retten ist, tu ich auch nicht. Aber ich starre nicht wie von der Schlange hypnotisiert auf das Negative, sondern sehe auch Anzeichen, daß sich etwas zum Positiven verändert, und zwar gar nicht so wenig. Und ich habe die Zuversicht, daß ich mit meinen Vorstellungen nicht allein bin. Wenn mein Beitrag auch bescheiden ist: Einer allein ist ein hilfloser Narr. Aber viele solche hilflose Narren sind eine ganz respektable Macht, sagt ein Sprichwort.

Die Geschichte, wie es dazu kam, daß die ganze Barfuß-Geschichte ins Rollen kam, ist eigentlich die Geschichte, warum sie so lange nicht ins Rollen kam. Von meinen Sprachschwierigkeiten, mit mir unbekannten Personen in schriftlichen Kontakt zu treten, den Peinlichkeiten, die dabei entstanden, habe ich Dir schon erzählt. Das weit größere Hindernis aber war meine abgrundtiefe Abneigung gegen jede Form von missionarischem Eifer. Und nun sollte ich womöglich selbst missionarisch tätig werden? Die ursprüngliche Idee war nämlich eine durchaus kämpferische: Ein DIN-A4-Blatt mit Informationen, deren Verbreitung über die Medien die diversen Lobbies zu verhindern wußten, an Freunde und Bekannte weitergegeben, sollte sich nach dem Schneeball-Prinzip verbreiten. Und das zwei- bis dreimal im Monat. Barfuß stand dabei symbolisch für die Mittellosigkeit der Aktion, im Vergleich zu den Mitteln, die den Mächtigen zur Durchsetzung ihrer Interessen zur Verfügung stehen. Das Engagement vieler Barfüßiger sollte ein Gegengewicht entstehen lassen. Es ging damals um das AKW Zwentendorf. Die Stimmung war ziemlich aufgeheizt und aggressiv, so daß eine solche „Aktion Barfuß“ nur Öl ins Feuer gegossen hätte. Mir war nicht recht wohl bei der Idee, und ich bin heute froh, daß ich sie nicht verwirklicht habe. Das Aufbauen von Feindbildern ist eine Sache für feine, angesehene Herren mit weißer Weste. Mir ist sie zu schmutzig. Ich sehe schon, hier muß ich eine Erklärung abgeben, damit die Verbreitung des Buches nicht medienrechtlich verboten wird: Nicht jeder feine, angesehene Herr mit weißer Weste baut Feindbilder auf! Das habe ich auch gar nicht behauptet. Und ich habe auch nicht an Saddam Hussein gedacht: Die Beurteilung, ob er ein feiner, angesehener Herr mit weißer Weste ist, steht mir nicht zu. Auch bezweifle ich, daß er es noch nötig hat, Feindbilder aufzubauen, ist er doch selbst als solches bereits hinreichend hochgestylt.

Aber zurück zur Barfußgeschichte und warum sie nicht und nicht ins Rollen kommen wollte. Einmal kam sie sogar ins Hinken. Und das kam so: Es erschien mir an der Zeit, die ganze Sache einmal gründlich zu überdenken, Abstand zu gewinnen und zugleich zu den Wurzeln zurückzufinden, zum Wesentlichen. Andere gehen zu diesem Zweck in die Wüste oder ziehen sich ins Kloster zurück. Mir erschien eine ausgedehnte Wanderung angebrachter. Barfuß natürlich, um dem Thema gerecht zu werden. Und da die Segnungen des Wohlstandes auch an mir nicht spurlos vorübergegangen waren, beschloß ich zu fasten, um Körper und Geist zu reinigen und die Seele zu stärken. Der Verzicht auf’s Rauchen sollte ein übriges tun. Über die nackten Fußsohlen würde sich der verlorengegangene Kontakt zur Mutter Erde wieder herstellen lassen, der Kraftfluß würde sich wieder einstellen. Reflexzonenmassage, wie man das heute nennt, würde ein ungeahntes Wohlbefinden hervorrufen. Der Inspiration in der Einsamkeit der Natur sollten gesellige Abende in Landgasthäusern folgen. Meine bloßen Füße würden den Anstoß geben zu Gesprächen über die alten und neuen Zeiten, über Natur und ihre Bedrohung durch unsere Techno-Zivilisation. Und damit mein Geistesfluß auch ungehemmt festgehalten werden könnte, hatte ich mir ein Diktiergerät besorgt. Der Wettergott war gnädig, alle Zeichen standen günstig. Allein, es sollte anders kommen. Das erste Gasthausgespräch begann mit der Frage: Na, geh’n S’ nach Mariazell? Diese Frage hatte ich am wenigsten erwartet. Ich wagte nicht, sie zu verneinen. Wer auf Wallfahrt ist, hat Narrenfreiheit, und ich fühlte plötzlich, daß ich sie bitter nötig hatte. So war der Anfang auch schon das Ende des Gespräches. Am zweiten Tag hielt ich, so unsinnig das für einen Fastenden auch sein mochte, Ausschau nach Pilzen. Und was fand ich, mitten im Wald? Eine Zigarette. Ich verstand das Zeichen zu lesen, und damit war auch der zweite gute Vorsatz gefallen. Am dritten Tag wunderte ich mich, daß es selbst in den kleinsten Nestern Schuhgeschäfte gab. Ich widerstand heroisch. Am vierten Tag versuchte ich meine Inspiration durch den Besuch heiliger Orte in Schwung zu bringen. Vergebens. Am fünften Tag endlich stammelte ich einige ungereimte Sätze ins Diktaphon. Und am sechsten wünschte ich mir nichts sehnlicher als ein Taxi ins nächste Schuhgeschäft. Es gab nur ein Fahrrad. Und da mein Rucksack als Pfand nicht ausreichte, mußte ein Knabe als Aufpasser hinter mir herstrampeln. Ich erstand schicke Tennissocken und Adidas Turnschuhe. Dem Knaben spendierte ich für seine Mühe ein Rieseneis, und mir gönnte ich Kaffee und Torte mit Schlag. Es ist kaum zu glauben, wie befreiend eine Kapitulation sein kann. Diese Erfahrung allein war schon die ganze Unternehmung wert. Freilich war sie nicht verlaufen, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Es war eben ein Versuch. Das haben Versuche so an sich. Wüßte man von vornherein, welche Lektion sie einem erteilen, brauchte man sie nicht zu starten.

Meine Lektion war: Nimm dich und deine Anliegen nicht so tierisch ernst. Wer so auf seine Würde bedacht ist, daß er keine Blöße zeigen kann, und seien es auch nur die Fußsohlen, der hat von Würde wenig Ahnung. Wirklich lächerlich ist nur, wer in ständiger Angst lebt, sich lächerlich zu machen.

Lektion zwei: Mit Gewalt geht gar nichts. Weder mit Gewalt gegen sich selber, noch gegen andere.

Jesus und Petrus sind beim Golfspielen. Jesus macht einen kräftigen Schlag, der Ball steigt hoch und landet in einem Bach. Ein Fisch schnappt den Ball. Ein Storch schnappt den Fisch und erhebt sich in die Lüfte. Der Fisch spuckt den Ball aus, und der Ball fällt genau ins Loch. Worauf Petrus verärgert fragt: Was ist? Wollen wir jetzt Golfspielen oder blödeln? – Ich glaube an Wunder. Aber ich bin auch überzeugt, daß sie nur so geschehen können. Sicher nicht mit Gewalt und nicht mit tierischem Ernst.

Also lachen wir doch ein bißchen, lassen wir uns nicht anstecken von all den finsteren Gesichtern ernstzunehmender Leute. Schließlich haben wir ein Wunder zu vollbringen, Du und ich!

Lektion drei: Leben ist Risiko. Sicherheit führt zum Vegetieren. Haben Sie nicht Angst vor Schlangen? fragt mich eine Frau. Nein, sage ich, ich habe nur eine gesehen und die war ungefährlich. Auf der Straße, plattgewalzt. Wer nicht zum Risiko bereit ist, ist das erste Opfer für das Geschäft mit der Angst, eine sehr nekrophile Sache! Ich bin nicht bereit, im Bergwerk zu wohnen, auch nicht im Schutzraum oder Bunker, und sage daher: Seltenheit geht vor Sicherheit. Das Leben ist nun einmal lebensgefährlich, aber für den, der im Bunker sitzt, hoch versichert, nicht minder als für den, der sich draußen vergnügt. Und das Leben ist voller Wunder, aber nur für den, der es annimmt als Spiel, als das großartigste Spiel, das uns gegeben ist.

Also laß uns spielen, den Einsatz verdoppeln, damit wir unser blaues Wunder erleben! Oder unser grünes.

Lektion vier: Fasse dich in Geduld. Mit meiner Barfuß-Idee war ich nämlich um keinen Millimeter vorangekommen. Es läßt sich eben nichts erzwingen. Und das ist gut so. Die beste Idee zur falschen Zeit ist eine Totgeburt. Und eine unreife Idee schon gar. Was stattfinden soll, reift heran. Wenn nicht, dann soll’s eben nicht sein.

Und so faßte ich mich denn auch in Geduld. Es sollte wieder Jahre dauern, aufmerksame Jahre, in denen ich viel zu lernen hatte, so manches klarer zu sehen begann und vor allem eines begriff: Es hängt alles zusammen.

 

Es hängt alles zusammen




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Das Kunststück, jeden von uns mit einem anderen Ziel in die Wüste zu schicken, hat hervorragend funktioniert. Aber seine Tage sind gezählt. Wenn es im Bereich der Wissenschaften auch noch dauern mag: Spezialisten, die ihre Arbeit im Nabel der Welt sehen, die sich aber schon mit den Kollegen von nebenan nichts mehr zu sagen haben, sind ideale Werkzeuge für die Durchsetzung beliebiger Interessen. Nur zu oft – das sei zu ihrer Ehrenrettung gesagt – ohne es zu merken. Sie werden noch lange so weitermachen, Hohepriester, die nicht merken, daß sie in der Wüste umherirren, und daß ihr Stern im Sinken begriffen ist. Mit jedem Gutachten und Gegengutachten verlieren sie an Glaubwürdigkeit, und die Sache wird für das gemeine Volk bald durchsichtiger als für sie selbst.

Da sagt mir doch ein von seinen Fachkollegen weltweit geschätzter Motorspezialist auf meine Frage, was denn die Senkung der Fahrgeschwindigkeit von 130 km/h auf 100 an Verringerung in der Schadstoffemission brächte: „So darfst du die Sache nicht sehen. Eine wirksame Kontrolle der 130 auf den Autobahnen bringt sicher mehr, als wenn man 100 verordnet, und keiner hält sich daran.“ Das mag schon stimmen, sage ich darauf, aber wenn ich wissen will, wie man so was durchsetzt, frage ich den Herrn Innenminister. Der ist dafür zuständig, von Dir als Motorenspezialisten will ich wissen, um wieviel mehr Schadstoffe ich in die Luft blase, wenn ich 130 statt 100 fahre. Und wieder beginnt er mir klarzumachen, daß das ja nicht die Frage sei, die sich in der Praxis stelle. Nach 10 Minuten breche ich das Thema ab. Ich weiß genug: Wer durch seinen Beruf eine Ehe eingegangen ist, wird sich hüten, gegen die Interessen seines Partners zu verstoßen. Sosehr ich ihn schätze als gescheiten, liebenswerten Menschen, mit dem ich manche Interessen teile, auf diese Auskunft muß ich eben verzichten. Ich hole sie mir von der Zapfsäule. Auch wenn mich mit ihr nicht gerade freundschaftliche Gefühle verbinden, so sagt sie doch unmißverständlich: Ein gutes Viertel mehr. Ob das Ganze bei 130 so viel umweltfreundlicher verbrannt ist, bezweifle ich, weil ich eben kein Motorspezialist bin und mich, wie soviele andere auch, hartnäckig weigere, mir das Vertrauen in meinen Hausverstand durch die Spezialisten ausreden zu lassen.

Spezialisten, ein neues Feindbild?, höre ich Dich fragen. Und ich frage Dich z. B.: Wo bleibt der Arzt, der noch den Menschen sieht, in seiner Ganzheit, in seiner Einheit von Körper, Geist und Seele, der den Patienten ansieht und weiß, wo es hapert, der mit ihm noch über das Leben spricht, der weiß, daß Krankheiten eine positive Funktion haben? Sie sind Lernchancen, die es zu nützen gilt. Sie sind unmißverständliche Anzeichen, daß wir mit unserem Leben in irgendeine Sackgasse geraten sind. Wo bleibt der Arzt, der uns hilft herauszufinden, was wir in unserem Leben zu ändern haben, um es wieder biophil zu gestalten, herauszufinden, wo wir mit der Sinnfrage nicht klarkommen, wo wir uns selbst belügen, ohne es zu merken, wo wir unsere Gefühle vergewaltigen? Wo bleibt der Arzt, der noch die Zusammenschau hat, der das Ganze sieht, den Menschen nicht mehr zerlegt in hunderte Einzelbereiche, für die lauter Spezialisten zuständig sind, die untereinander die Sprache längst verloren haben. Wo bleibt der Arzt, der noch den Menschen ansieht statt das Röntgenbild, den Laborbefund, den Bildschirm?

Natürlich, es gibt ihn noch, ihn, der nicht nur uns als Ganzes sieht, sondern auch das größere Ganze, in das wir eingebettet sind, von dem wir uns nicht frei machen können, ohne dafür zu zahlen: Wenn es unseren Nachbarn schlecht geht, steckt das eben auch uns an. Und wegschauen hilft da gar nichts. Wenn es den Tieren in unserer Umgebung schlecht geht, so bleibt das eben auch auf uns nicht ohne Wirkung. Natürlich, es gibt ihn noch, den Arzt, der weiß, daß es uns nur so gut gehen kann, so liebevoll und behutsam wir mit allem umgehen, was uns umgibt. Ich glaube nicht, daß ich das Jesuswort „was du dem geringsten meiner Brüder angetan, das hast du mir angetan!“ unzulässig uminterpretiere, wenn ich sage: „Was ich dem geringsten meiner Brüder antue, das tue ich mir selber an!“ Das gilt es zu begreifen. Und der geringste meiner Brüder ist ein weiter Begriff, der nicht vor meiner Haustür endet. Gemeint ist auch der in Afrika, Südamerika oder Malaysien. Und gemeint ist nicht nur der Mensch, sondern auch das Tier, die Pflanze, der Stein! Das gilt es zu begreifen. Es hängt eben alles zusammen und läßt sich nicht auseinanderdividieren, ohne daß wir uns selbst damit krank machen.

Natürlich gibt es ihn noch, den Arzt, der das alles sieht und der uns hilft, die Wurzel unserer Leiden zu erkennen, der nicht Symptome zu behandeln versucht, so daß sich der Protest des Lebens gegen die Nekrophilie eben durch ein anderes Leiden, eine andere Krankheit, Aufmerksamkeit verschafft. Es gibt ihn noch, allerdings ausgestoßen, exkommuniziert aus dem erlauchten Kreis der Diener der Wissenschaft. Er ist eben Diener des Lebens. Aber mehr und mehr Menschen wenden sich ihm zu, statt sich als Nummer in eine unbarmherzige Krankheitsvermarktungsindustrie zu begeben. Sie sind auch bereit, dafür zu zahlen, denn die Sozialversicherung lenkt ihre Milliarden in die Krankheitsvermarktungsindustrie. Sie ist ja Teil dieses Systems und lebt davon, wie der Motorspezialist von der Automobilindustrie. Der ausgestoßene Diener des Lebens bekommt natürlich nichts. Unerträglich diese Zustände! Und dann näht mir so ein Spezialist meine Achillessehne wieder zusammen, und ich erkenne: Auch das ist ein Beitrag für meinen inneren Frieden.

Es gibt eben mehrere Wahrheiten nebeneinander. Aber das ist so leicht nicht zu verstehen. Nicht für uns, die wir gewöhnt sind, Wahrheiten, die nicht die unseren sind, wie alles Andersartige zu bekämpfen, und erst mühsam lernen müssen, ihnen mit Toleranz zu begegnen. Wobei ja Toleranz noch lange nicht der Entwicklung letzter Schritt sein kann. Wie weit ist doch diese Fähigkeit, Andersartiges in Gottes Namen gewähren zu lassen, noch von der Einsicht entfernt, daß der Reichtum dieser Welt in ihrer Vielfalt, ja in ihrer unergründlichen Widersprüchlichkeit liegt. Und wie weit ist diese Einsicht von ihrer Verinnerlichung, von ihrem Niederschlag in unserem Gefühlsleben entfernt!

„Ist das überhaupt zu schaffen für einen normalen Menschen?“ wirst Du vielleicht fragen. Ich sage Dir, für einen normalen Menschen ist das ganz normal, z. B. für die Bäuerin, die am Feierabend auf der Hausbank sitzt, vor sich hinsinniert und sagt: „Ja, ja, sein tut’s, wie’s ist!“

Für manchen sicher eine stumpfsinnige Banalität, wie die Feststellung, daß weiß eben weiß sei. Für mich der Ausdruck eines allumfassenden Friedensschlusses mit dem Leben. Wie anders klingt das doch als der zornige Rundumschlag mancher Autoren. Und mag es für manche der Ausdruck einer tiefen und endgültigen Resignation sein, für mich spricht daraus schlicht Demut. Demut, die Einsicht in die eigene Kleinheit angesichts der Größe des Wunders Leben auf dieser Erde, in diesem Kosmos. Zugleich aber auch die beglückende Gewißheit, Teil dieses Wunders zu sein. Demut vereinigt eben die beiden Pole der Selbsteinschätzung: die Bescheidenheit und das Selbstbewußtsein, das Erkennen der Kleinheit und zugleich der Größe. Auch hier wieder zwei Wahrheiten, die einander zu widersprechen scheinen. Schwer zu begreifen? Natürlich stehen uns da unsere auf Logik trainierten Hirne ein bißchen im Weg, mit ihrem System von absoluten Wahrheiten, die einander ausschließen: Ist die eine richtig, so ist die andere falsch. Nein, auch Wahrheiten sind relativ und haben ihren beschränkten Gültigkeitsbereich. Aber sie sind stärker als alle absoluten Wahrheiten: Sie bleiben auch neben anderen, widersprüchlichen Wahrheiten bestehen. Ja, sie gehören zusammen und bilden erst zusammen jene Harmonie der Gegensätze, die den Reichtum des Lebens entstehen läßt.

Sehen wir uns einmal an, was dabei herauskommt, wenn nur ein Teil vertreten ist:

Bescheidenheit, als Einsicht in die eigene Kleinheit, Belanglosigkeit, Ohnmacht, führt zur Resignation, zur Aufgabe jedes Widerstandes, letztlich zum Vegetieren und ist zutiefst nekrophil. Den ungeheuren Frust, oben nichts ausrichten zu können, gibt man dann eben nach unten weiter: Zu spüren bekommt es der Hund, die Frau, das Kind, der Untergebene.

Wohin andererseits Selbstbewußtsein ohne den Gegenpol der Bescheidenheit führt, ist ja auch hinlänglich bekannt: Überheblichkeit, Rücksichtslosigkeit, Gigantomanie. Sie sind ebenfalls zutiefst nekrophil. Es entsteht der „Macher“, wie er heute in Wirtschaft, Politik und Militär Karriere macht. Natürlich hat auch er immer ein paar bescheidene Sprüche bereit. Die kommen gut an. Aber damit hat sich’s auch schon.

Nein, nein, diese Aufteilung der Menschheit, bei der ein Teil vor Selbstbewußtsein und Hochmut zu platzen droht, und die große Mehrheit dazu verurteilt ist, sich diese Überheblichkeit gefallen zu lassen, ist wohl keine Lösung auf Dauer, sondern bestenfalls als Lernchance zu akzeptieren. Wir müssen wieder zur Ganzheit zurückfinden, zur Demut.

Ich weiß schon, ich riskiere unmodern zu sein, wenn ich von Demut spreche, und ewiggestrig, wenn ich das Schicksal beklage, das diesem Begriff widerfahren ist:

Der erste Anschlag kam von der Kirche, die es sich nicht versagen konnte, mit der Angst zu operieren: Jeder kennt die Heiligendarstellungen, die Hände zum Gebet gefaltet, die Augen nach oben übergedreht und den Kopf eingezogen, wie ein Hund, der Prügel erwartet. Demut dargestellt als der körperliche Ausdruck geistig-seelischer Verkrüppelung. War die Demut solcherart erst einmal zu einer wenig attraktiven Tugend verkommen, war es für die Geistesströmung der Aufklärung ein Leichtes, ihr vollends den Garaus zu machen: Demut wurde durch Hochmut ersetzt. Der Hochmut der Aufklärung war ein geistiger, die Überzeugung nämlich, durch die Wissenschaften dem Leben alle Geheimnisse abtrotzen zu können. Eine Überzeugung, der übrigens die wirklich großen Wissenschaftler längst nicht mehr anhängen. Um sie heute noch teilen zu können, müssen einem die Scheuklappen schon sehr eng anliegen!

Dem Hochmut der Aufklärung folgte nahtlos der Hochmut der Industriegesellschaften. Der geistige Hochmut wurde gleichsam materialisiert im Machbarkeitswahn. Fortan sollte es als Tugend gelten, der Beherrscher der Natur zu sein, ihr Bezwinger. Je größer der Staudamm, umso größer die Bewunderung für ihren „genialen“ Erbauer. Der Einsatz immer gigantischerer Maschinen auf der einen Seite und der Vorstoß in den Mikrobereich auf der anderen, z. B. in der Gentechnologie oder Mikroelektronik, haben nur ein Ziel: Diese so eigenwillige und widerspenstige Natur, dieses Leben, das offenbar nicht weiß, worauf es hinauswill, mit seinen Kapriolen, die es schlägt, berechenbar zu machen, ihm beizubringen, wo es lang zu gehen hat, ihm den Herren zu zeigen, es endlich in den Griff zu bekommen. Und wo immer das gelungen ist, war es der Würgegriff. Und wo immer man der Sache Zwang angetan hat, hat man einen neuen „Sachzwang“ erzeugt und damit die Legitimation, fortzufahren mit dem hochmütigen, nekrophilen Spiel. Ich nenne es ja lieber „höhere Gewalt“. Denn jede Gewalt erzeugt wieder Gewalt, höhere, in einer fatalen Spirale. Siehst Du, und wieder hängt alles zusammen: Es ist ein und dieselbe Geisteshaltung, die uns überall entgegenschlägt. Die Geisteshaltung der hochindustrialisierten Länder, der zivilisierten Welt, wie sie sich gerne selber nennt, der erfolgreichen – was unbestreitbar ist. Erfolg, bis an den Rand der Selbstzerstörung. Und wir werden einiges zu tun haben, um dafür zu sorgen, daß der Erfolg die Selbstzerstörung nicht perfekt macht. Längst heißt der Neujahrswunsch nicht mehr Glück und Segen, sondern Erfolg! Wie unverbindlich und wie so praktisch wertneutral: Ein weiteres Lieblingswort, mit dem Wissenschaft und Technik, Forschung und Wirtschaft jeden Vorwurf zurückweisen, sie seien zerstörerisch unterwegs. „Was wir machen, ist wertneutral, der Computer, das Auto, das Kernkraftwerk, der Satellit, die Gentechnologie. Es hängt nur davon ab, ob es sinnvoll verwendet wird. Aber das ist nicht unsere Verantwortung.“ – Und die Atombombe? Wie verwendet man die sinnvoll?

Frage ich einen Wirtschaftslandesrat, ob er mir einige erfolgreiche Betriebe im Lande nennen könne, bekomme ich zur Antwort: Zehn, zwanzig, dreißig, wieviel wollen Sie? Und wenn ich ihn dann frage, welche davon lebensfreundlich tätig seien, zum Wohle von Mensch und Natur, sagt er bedenkenlos: „Alle natürlich!“ Welcher Politiker gibt schon zu, daß er eine Frage nicht versteht, daß sie in seinem Denken einfach keinen Platz hat? Und morgen kann er ja schon Umweltlandesrat sein, zuständig dafür, erfolgreich die Umweltprobleme in den Griff zu bekommen. Das ist ja ihr Vorzug, daß Politiker beliebig austauschbar sind, einfach überall kompetent und erfolgreich.

Mit dieser Geisteshaltung halten wir uns auch für zuständig und kompetent, den Entwicklungsländern zu erklären, wo es lang zu gehen habe, für zuständig, die Schäden, die wir aufgrund eben dieser Geisteshaltung angerichtet haben, zu reparieren, sowie die Schäden, die durch die Reparatur erst entstehen. Ein verhängnisvolles Perpetuum Mobile. Und wir sind natürlich zuständig, die Kinder zu erziehen und sie zu wertvollen Mitgliedern dieser Gesellschaft zu machen, soll heißen: zu funktionierenden. Aber Funktionieren ist eben nicht alles.

 

Funktionieren ist nicht alles




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Dazu eine Geschichte aus einer Schwimmstunde mit 10-jährigen:

Ich sage nur „Tummeln“, wohlwissend, daß die meisten mich nicht verstehen, und sehe zu, was sich tut. Der Großteil der Schüler springt mit Hurra ins Wasser, andere folgen etwas zögernd. Sie finden sich zu zweit, zu dritt, in kleinen Gruppen, einige sind auch allein mit sich zufrieden. Es entstehen bald Fangspiele, Reiterkämpfe, Kunststücke aller Art. Ein Schüler steht noch draußen. Er steigt von einem Bein auf das andere. Schließlich kommt er zu mir: „Herr Professor, bitte was soll ich tun?“ – Ich zucke mit den Achseln: „Ich weiß nicht. Aber wenn Du Dir das ansiehst, fällt Dir vielleicht etwas ein.“ Zuerst sieht er mich ganz entgeistert an, dann schaut er seinen Kameraden zu. Plötzlich erhellt sich sein Gesicht, er springt ins Wasser und mischt sich ins Getümmel.

Diese Geschichte zeigt, wie sehr manche Kinder bereits darauf hingetrimmt sind, zu funktionieren, den Vorstellungen anderer zu entsprechen, und wie hilflos sie sind, wenn ihnen statt klarer Anweisungen die Freiheit gegeben wird, ihren eigenen Ideen und Impulsen nachzugehen. Wie sollten sie auch, wenn sie nie gelernt haben, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse überhaupt zu erkennen, wahrzunehmen, geschweige eigenen Regungen zu folgen. Die Geschichte zeigt aber auch, welches Erlebnis es für ein Kind bedeuten kann, sich einen Vorstoß in diese Richtung zu gestatten.

Hier liegt die Frage nahe, ob nicht die Fähigkeit zu funktionieren, den Vorstellungen anderer zu entsprechen, sie anzunehmen und zu den eigenen zu machen, für das Gemeinwohl gerade einer demokratischen Gesellschaft die wichtigere Tugend sei als das Wahrnehmen der eigenen Wünsche und Regungen. Eine wichtige Frage. Vielleicht die zentrale Frage überhaupt. Funktionieren ist gut. Aber ohne eigenverantwortliche Kontrolle kann die Bereitschaft zu funktionieren nur allzuleicht für beliebige Interessen mißbraucht werden. Dies hat das Gehorsamsexperiment nach Milgram/Mantell in München 1970/1971 deutlich gezeigt: 92,5% der Versuchspersonen haben funktioniert. Funktioniert, indem sie ihre eigenen Regungen, ihr Mitleid, ihre Hemmungen, andere zu quälen, und ihr Gewissen damit betäubten, daß ja nicht sie die Verantwortung tragen. Natürlich wurde in diesem Experiment alles aufgeboten, was Eindruck macht, alles, was das Gewissen beruhigt: Der klingende Name eines bekannten wissenschaftlichen Forschungsinstitutes. Der beeindruckende Aufwand an Apparaturen. Die weißen Mäntel, Professoren, Assistenten ... Den Versuchspersonen wurde glaubhaft gemacht, sie seien auserwählt, in einem wichtigen wissenschaftlichen Versuch eine bedeutende Rolle zu spielen.

Und zu dieser Rolle gehörte es eben auch, auf den Knopf zu drücken. Und das in der Überzeugung, man verpasse damit einer anderen Versuchsperson einen Stromstoß. Einem Menschen, von dem man überzeugt war, er sei im Nebenzimmer angeschnallt und könne sich nicht wehren. Man hat es ja selbst ausprobiert, wie das ist: nur mit leichteren Stromstößen, versteht sich. Aber immerhin: Angeschnallt, wehrlos ausgeliefert – nicht gerade angenehm.

Und dann war gelost worden, und man hatte den „Lehrer“ gezogen, der andere den „Schüler“, der angeschnallt wurde, um im Dienste der Wissenschaft Stromstöße zu ertragen. Er hat eben Pech gehabt, der Kollege. Aber so ist das nun einmal im Leben. Und schließlich war ja auch die eigene Rolle nicht gerade angenehm, den Lehrer zu spielen, bei jeder falschen Antwort auf den Knopf drücken zu müssen und sich den Protest des anderen anzuhören. Dann das Jammern, das Stöhnen, das Schreien und Brüllen, und was das Schlimmste war, die plötzliche Stille. Wenn man sich fragen mußte: Ist er jetzt ohnmächtig? Lebt er noch oder ...? Aber der Versuchsleiter mit dem weißen Mantel wird schon wissen, was er da macht, er ist ja dafür verantwortlich.

Natürlich wußte das der Versuchsleiter: Gepeinigten gab es keinen. Nur ein Tonband, das die Versuchsperson glauben ließ ... Und dann gab es die Ermahnungen des Wissenschaftlers, weiterzumachen. Schließlich habe man sich für den Versuch zur Verfügung gestellt, und nun müsse man eben auch ...

Und so haben denn auch 92,5% der Versuchspersonen funktioniert. Sie waren bemüht, ihr Bestes zu geben. Und dabei haben sie das Beste, das sie zu geben hatten, niedergekämpft: ihre innere Stimme, die ihnen sagte: „Aufhören!“.

Dieser Versuch hat mich zutiefst erschüttert. Er hat mir bewußt gemacht, bis zu welchem Grad man aus uns Werkzeuge gemacht hat, die zur Durchsetzung jedes beliebigen Zieles einsetzbar sind. Wir sind ein Wunder der Dressur. Das eigenständige Denken hat man uns abgewöhnt und unsere Gefühle hat man uns gelehrt niederzukämpfen bis zur totalen Abstumpfung.

In den Anfängen der Industriegesellschaften waren die Methoden noch brutal und offenkundig: Ausbeuten, bis hin zur Kinderarbeit für einen Hungerlohn. Armut, Not und Elend machen stumpf, schicksalergeben. Gab es dennoch Aufruhr, wurde er brutal niedergeschlagen.

Heute sind die Methoden subtiler geworden: Der Herr Kommerzienrat aus der guten alten Zeit und sein junger Kollege aus der Chefetage des Konzerns angeln gemeinsam. Der Kommerzienrat fängt einen Fisch, schlägt ihm mit dem Griff des Fischmessers auf den Kopf und wirft ihn in den Eimer. Da fängt sein junger Kollege einen Fisch, holt ihn sorgfältig von der Angel, legt ihn ins feuchte Gras und streichelt ihn. Auf die Frage des Kommerzienrates, was er da tue, antwortet er: Du hast eben nichts gelernt. Er stirbt auch so!

Wir werden längst nicht mehr mit Brachialgewalt kaputtgemacht. Heute sind es die Verlockungen und Verheißungen der Konsumgesellschaft, die uns in ihre Abhängigkeit hineingeraten lassen. Der süße Gesang der Lorelei. Wenn Du ihm verfällst, ist’s um Dich geschehen.


Da sitze ich bei der Maturakneipe – so heißt bei uns in Österreich das gesellige Beisammensein nach dem Abitur – und stelle den nun offiziell Für-Reif-Erklärten die Frage: Na, was meint Ihr? Lernziel erreicht oder nicht? – Lernziel? – kommt die Gegenfrage – In Turnen? (So nennen wir noch immer das Fach Leibesübungen.) Die Frage ist nicht ganz unberechtigt, denn subversiv, technikfeindlich und grün wie ich nun mal bin, halte ich wenig von Leistungsmaximierung im Sport, hingegen viel von der Möglichkeit, eigene Neigungen und Fähigkeiten kennenzulernen und von der Freiheit, die Turnstunde selbständig zu gestalten. Gruppendynamische Lernprozesse nennt man so etwas. Dementsprechend selten sah ich mich veranlaßt, Programme zu machen und Lernziele vorzugeben. Daher also die Frage: Lernziel? In Turnen? Also, sage ich, ich will versuchen es euch zu erklären: Wie würdet ihr euch selbst einschätzen, wenn es um die Frage geht, wie ihr auf die offenen und verborgenen Verlockungen der Werbung reagiert, wie weit ihr beeinflußbar seid?

a) Ich fahre einfach ab drauf und muß alles haben, was „in“ ist.

b) Ich halte mich für resistent, für nicht beeinflußbar.

c) Ich liege irgendwo dazwischen.

Wie aus der Pistole geschossen erklären sich die drei, die täglich mit dem Suzuki Geländewagen durch die Stadt kurven, für resistent. Der Rest stuft sich irgendwo dazwischen ein, aber hält sich für kritisch und wenig anfechtbar. Nur einer kratzt sich hinter dem Ohr und sagt: Ich weiß nicht, ich glaube, für mich könnte ich die Hand nicht ins Feuer legen. Was die Suzuki-Piloten zu schallendem Hohngelächter veranlaßt.

Jetzt stellt euch einmal vor, sage ich, ich würde für einen verantwortungsvollen Job einen Menschen suchen, bei dem ich mich darauf verlassen kann, daß er seine Entscheidungen autonom, in Eigenverantwortung trifft, ohne sich beeinflussen zu lassen. Wen würde ich wohl nehmen? Wer hat jene selbstkritische Einstellung bereits entwickelt, die für eigenständiges Handeln Voraussetzung ist?

 

Mechanismen, unser Schicksal?




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Vor einigen Jahren war ich mit einer Klasse auf Maturareise. Mit dem Flugzeug nach Mallorca. Das war der Inbegriff von Luxus und modern. Fünf Kilometer Sandstrand, dahinter die Hotels in Fünferreihe. Am Abend in der Disco, dieselben Scheiben wie in Graz. Ich erklärte, daß ich ein Auto mieten würde und jeden Tag mit einer anderen Besetzung die Insel erkunden wolle. Nur müsse immer mindestens ein Musiker mit von der Partie sein. Es gab genügend in der Klasse. Und so hielten wir es dann auch. Da Musik verbindet, hatten wir auch bald einen Musiker kennengelernt, einen jungen Amerikaner. Er führte uns zum Schwimmen in eine wunderschöne, etwas abgelegene Bucht. Da waren noch mehr junge Leute aus verschiedensten Ländern. Ich erfuhr, daß sie in verlassenen Bauernhöfen wohnten und im Ort eine kleine Boutique unterhielten, in der sie ihre kunsthandwerklichen Erzeugnisse – Vasen, Bilder, Batiken und dergleichen – den Touristen feilboten. Viel brauchten sie nicht zum Leben. Gemüse zogen sie selber, das Obst wuchs ihnen praktisch in den Mund, und das Klima tat ein übriges, um die Lebenshaltungskosten niedrig zu halten. Am Abend saßen wir unter einer Laube beisammen und unterhielten uns. Da war auch ein kleiner Bub von fünf oder sechs Jahren. Er schäkerte bald hier und bald dort, saß bald dem einen auf dem Schoß, bald dem anderen. Mich interessierte, wer wohl die Eltern seien, und als er mit dem Amerikaner englisch sprach, war ich überzeugt, daß er der Vater sei. Im nächsten Augenblick aber sprach er französisch ebenso fließend und selbstverständlich mit einem anderen. Dann wieder spanisch mit einer jungen Frau, so daß ich sie für die Mutter hielt. Und auch deutsch fehlte nicht in seinem Repertoire. Wie kommt das, fragte ich mich, dabei hatte ich die Antwort eben erlebt. Es hieß eben nie: Kleine Kinder haben still zu sein, wenn die Erwachsenen sprechen; oder, am Abend gehören kleine Kinder ins Bett; oder, frag’ nicht so dumm, das verstehst du noch nicht, sondern er war einfach überall willkommen und konnte fragen, was er wollte. Man versuchte eben zu antworten, so gut man konnte. Ja, und so kommt das eben, daß so ein kleiner Bengel vier Sprachen spricht, fließend. Mir geht es aber gar nicht darum, etwa einen Vergleich mit den Mühen und Früchten unseres Schulsystems anzustellen, so lohnend das auch sein mag. Nein, ich will lediglich einen Eindruck von der Atmosphäre vermitteln, der Heiterkeit und Freundlichkeit, die in dieser Gruppe herrschte.

Zwei Tage später war ich wieder in dem Ort. Mit einer anderen Besetzung, aber ein Musiker war wieder dabei. Wir fanden ein kleines Restaurant mit einer wunderschönen Terrasse, wo wir zwischen Oleanderbüschen und Weinreben Platz nahmen, den Blick über die Steilküste auf’s Meer genossen, Sangria tranken, plauderten, musizierten und sangen. Als uns der zweite Krug Sangria serviert wurde, fragte ich, wer den bestellt hätte. Niemand. Da erst bemerkte ich am anderen Ende der Terrasse ein älteres Ehepaar, das uns freundlich zuwinkte. Wir kamen ins Gespräch. Es waren nette Leute aus Deutschland, die hier ihren Urlaub verbrachten. Es sei ihnen eine Freude, uns auf das Getränk einzuladen. Schließlich träfe man ja nicht oft auf eine Jugend, die noch in Ordnung sei. Offensichtlich hatten sie der Gruppe angesehen, daß es sich um junge Leute handelte, die eben zwischen Schule und Studium den verdienten Kurzurlaub genossen. Sie hatten ihnen wohl den Glauben an die Jugend und an die Zukunft schlechthin wiedergeschenkt. Wie tief dieser Glaube ins Wanken geraten war, sollten wir bald merken, denn nun zog der Mann vom Leder: „Aber diese jungen Leute hier im Ort!“ Er meinte offensichtlich diese Kolonie von Lebenskünstlern, die auch wir kennengelernt hatten. „Was ist das für ein Lebensinhalt? Die lassen sich den ganzen Tag die Sonne auf den Bauch scheinen! Tagediebe! Taugenichtse! Keiner geht einer geregelten Arbeit nach! Wo kommen wir denn da hin, mit so einer Einstellung?! Die zahlen doch keine Steuern, keine Krankenversicherung, keine Pensionsversicherung! Aber in Anspruch nehmen wollen sie wohl alles. Ich möchte wissen, was die machen, wenn einmal einer krank ist?!“

Ich fragte mich, was die beiden so aufregte, mit solch tiefem Groll erfüllte. Sie hatten ihnen ja nichts getan. Gewiß war da der Konsumverzicht, dieses Sich-Entziehen, Sich-Verweigern, was ihnen Schwierigkeiten bereitete. Wo sollte denn da die Wirtschaft hinkommen, mit solchen Leuten! Aber das war noch keine hinreichende Erklärung. Und dann versetzte ich mich in ihre Lage und mit einem Mal war mir manches klar. Wenn ich ein ganzes Jahr lang irgendeinem stumpfsinnigen Beruf nachgehe, der mich nervt, nur damit ich mir zwei Wochen Mallorca leisten kann, und dann sind da Leute, die sich einfach den Luxus Mallorca zwölf Monate im Jahr leisten, noch dazu mit dem Unterschied, daß sie nicht geneppt werden wie die Touristen, daß sie sich mit den Einheimischen unterhalten, ins Dorfgeschehen einbezogen sind, und jung sind sie auch noch und voller Leben! Da muß ich mir doch die Frage stellen, ob ich nicht in meinem Leben irgendetwas falsch gemacht habe. Und da diese Frage sehr unangenehm ist, räche ich mich eben an denen, die mich mit der Nase darauf gestoßen haben, die mir meine mühsam zusammengehaltene Welt sosehr erschüttert haben. Und bevor ich mich zwingen lasse, meine Welt einer Revision zu unterziehen, erkläre ich lieber die ihre für unmoralisch und asozial, und den ganzen Groll, daß mir mit meinem Leben nichts Besseres eingefallen ist, lenke ich eben auf sie, die mir nun auch noch meinen sauer verdienten Urlaub vermiesen.

Und so schimpfte er sich seinen Groll von der Seele, dieser doch so freundliche Herr, spendierte uns noch einen Krug Sangria für’s Zuhören, und seine Frau schimpfte nach Kräften mit.

Mechanismen, denke ich, und daß einer nicht gleich ein schlechter Mensch zu sein braucht, wenn er einem Mechanismus verfällt. Das heißt ja nichts anderes, als daß er es nicht geschafft hat, eine Lernchance zu nützen. Und jede ungenützte Lernchance wendet sich irgendwo gegen einen selbst, macht krank und findet schließlich auch ihr Schlupfloch, durch das sie sich gegen andere wendet. Mechanismen, denke ich. Wir sind wohl alle nicht davor gefeit.


Kürzlich war ich bei einer Podiumsdiskussion zum Thema „Österreich und die Europäische Gemeinschaft – Vor- und Nachteile eines Beitritts“. Da ich die EG für ein Zweckbündnis halte, das vorrangig das Wirtschaftswachstum zum Ziel hat und darauf setzt, die „erwirtschafteten“ Vorteile gegenüber der Dritten Welt nötigenfalls mit Waffengewalt zu „verteidigen“, war meine Einstellung klar: Nur das nicht! Ich war auch nicht gekommen, um mir eine Meinung zu bilden, sondern mich interessierten die Parteien, ihre Argumente, und ich wollte mir das Ganze anhören, mir meinen Reim darauf machen, so unparteiisch das eben möglich ist, wenn man bereits eine klare Meinung zum Thema hat. Auf dem Podium saßen Vertreter der beiden Regierungsparteien (Sozialdemokratische Partei und Österreichische Volkspartei), zwei Grüne, und auch die Moderatorin war eine Grüne. Es war eine Wahlveranstaltung der Grünen, die ihre Anti-EG-Haltung zum Wahlkampfthema gemacht hatten. Entsprechend auch das Publikum: Nicht etwa ein Querschnitt durch die in Österreich vertretenen Meinungen, sondern geschlossene EG-Ablehnung. Nach den einleitenden Statements waren die beiden Vertreter der Regierungsparteien eine geschlagene Stunde einem regelrechten Bombardement von Argumenten, Angriffen und Polemiken ausgesetzt, dem sie unter Aufbietung aller erdenklichen Gegenargumente, aber auch des ganzen Repertoires an Gemeinplätzen, Floskeln und Banalitäten, über das ein gelernter Politiker verfügt, standzuhalten versuchten.

Und ich, der ich in der Absicht gekommen war, die Objektivität zu bewahren, merkte gar nicht, wie ich selbst Partei wurde, wie ich begann, mich über ein gutes Argument zu freuen, über eine brilliante Formulierung und bald auch über einen nicht ganz fairen Untergriff, wenn er nur gegen den EG-Beitritt gerichtet war und gut saß. Ich klatschte mit dem Publikum und ließ mich schließlich zu einer Wortmeldung hinreißen, mit der ich genau in diesen wenig würdigen Rahmen paßte. Als die Veranstaltung vorüber war, war mir nicht recht wohl in meiner Haut. Bis mir klar wurde, woher dieses Unbehagen rührte, und ich auf einmal den Wunsch verspürte, mich bei den beiden Herren zu entschuldigen und ihnen für ihren Mut zu danken, mit dem sie sich dem Gespräch gestellt hatten, waren sie verständlicherweise entschwunden. Und so blieb ich allein mit meinem unguten Gefühl und dachte mir einmal mehr: Mechanismen! Es bedarf der Wachsamkeit, um sich ihnen zu entziehen! Ja, das Heulen mit den Wölfen ist ein starker Mechanismus.

Diese Mechanismen haben wahrscheinlich in ihrer jahrmillionenlangen Entwicklung zu humanspezifischen Verhaltensweisen die Wurzel in einer positiven Funktion. Nur: Was kann ein Kind unserer Zeit dafür, wenn sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so verändert haben, daß ein Mechanismus seine positive Funktion verloren hat, ja daß er heute ein Zusammenleben stört oder gar gefährdet. Mögen zum Beispiel Mechanismen, die zum Entstehen eines kollektiven Feindbildes führen, zu Zeiten, in denen die Menschen in kleineren Gruppen als Jäger und Sammler lebten, ihre positive Funktion gehabt haben – heute, im Atomzeitalter sind sie eine Existenzbedrohung. Zum Glück sind Mechanismen nicht schicksalshaft, nicht ganz außer unserer Macht gelegen. Dort, wo „mechanistisches Verhalten“ heute störend ist, wo es einer biophilen Entwicklung im Wege steht, haben wir die Möglichkeit, uns darüber hinauszuentwickeln. Dazu aber muß man allerdings die Mechanismen erkennen, sich die eigene Anfälligkeit eingestehen und man muß wachsam sein, das ist wohl das Wichtigste. Und ich war nicht wachsam gewesen, denn gekannt habe ich den Mechanismus sehr wohl, hatte ich ihn doch schon Jahre zuvor selbst folgendermaßen formuliert: Je stärker Gruppen emotional polarisiert sind, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß Äußerungen nicht aufgrund ihres sachlichen Inhalts akzeptiert oder abgelehnt werden, sondern aufgrund der Gruppenzugehörigkeit der Person, die sie von sich gegeben hat. Applaus oder Buhrufe hängen weniger davon ab, WAS gesagt wurde, als davon, WER es gesagt hat. Parteigänger funktionieren als „Garanten“ für gute Inhalte, so daß sich eine kritische Überprüfung erübrigt. Umgekehrt erübrigt sich bei Aussagen eines Angehörigen der gegnerischen Gruppe eine Überprüfung auf ihre mögliche Brauchbarkeit. In einem solchen Klima ist es freilich nicht leicht, den Standpunkt des anderen einzunehmen, wie es das Gleichnis vom Wassertropfen empfiehlt.

Es ist wohl unschwer einzusehen, daß dieser Mechanismus nicht nur die sachliche Behandlung von Problemen erschwert, sondern dem demokratischen Reifungsprozeß schlechthin im Wege steht. Und so verhält es sich auch noch mit einer Reihe anderer Mechanismen, die ich Dir nicht vorenthalten möchte. Vielleicht haben sie auf’s erste Hinsehen wenig mit unserem Thema zu tun, aber Du weißt schon: Es hängt alles zusammen, und ihr Erkennen gehört einfach zur Entwicklung einer kritisch-mündigen Geisteshaltung dazu.

Vielleicht hast Du mit dem einen oder anderen Mechanismus schon Deine Erfahrungen gemacht. Vielleicht hast Du ihn auch schon an Dir selber entdeckt, wie der Zwölfjährige, der sich bei mir über einen Mitschüler beklagt: „Der Walter geht mir auf die Nerven. Immer wirft er mir genau das vor, was er selber falsch macht.“

“Ja“, sage ich, „das ist eigentlich ganz normal, das macht doch jeder. Wenn einer einem anderen etwas vorwirft, kann man ziemlich sicher sein, daß das genau seine eigenen Probleme sind.“

„Ja, aber“, sagt er, „der Walter muß immer der Beste und der Größte sein, er muß immer recht haben und verträgt es nicht, wenn ...“ – Pause – Dann sagt er: „Sie haben recht.“ „Ja“, sage ich, „ das ist der einzige Haken an der Sache, daß man selbst meistens keine Ausnahme ist.“

Der Zwölfjährige hat seine Lernchance erkannt und wahrgenommen, den Denkanstoß verarbeitet statt ihn abzuwehren. Er hat ein Stück des Weges beschritten, auf dem sich mehr und mehr Menschen befinden. Denn auch das ist ein Mechanismus: Wer eigenen Vorurteilen einmal auf die Spur gekommen ist und begonnen hat, eigene Einstellungen kritisch zu überprüfen, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit diese Geisteshaltung bewahren und bis ins Alter geistig beweglich bleiben, lebendig, eben biophil.

Wer hingegen seine Lernchancen nicht wahrnimmt, dem ergeht es wohl früher oder später wie unseren Urlaubern auf Mallorca. Er wird zu einem frustrierten, unglücklichen Gefangenen des Systems, ständig auf der Suche nach Ersatzbefriedigung, und weil das eben nicht funktionieren kann, wird er aggressiv und haßerfüllt.

 

Lebenssinn und Identität




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Die Sinnfrage ist im Leben eben mehr als der Luxus einer geistigen Spielerei für Philosophen. Wer sie verdrängt, in Betriebsamkeit abtötet oder abwehrt, indem er Sachzwänge vorschiebt, bekommt unweigerlich die Rechnung präsentiert: Er bleibt in seiner Entwicklung als Mensch stehen, verbarrikadiert sich, ohne es zu merken, den Zugang zur Quelle der Lebensenergie, bis er austrocknet und auch seine Gefühle nicht mehr wissen, was das ist: Lebensenergie, und wo sie herkommt. Er wird zu einer Belastung für sich selbst und seine Umgebung.

Die Beantwortung der Sinnfrage, ja die Bereitschaft, sich ihr ein Leben lang immer wieder von neuem zu stellen, und die Bereitschaft, auch Konsequenzen zu ziehen, im Lebensplan Veränderungen vorzunehmen, ist die Voraussetzung für ein sinnerfülltes Leben, für das Verbreiten von Zuversicht und Lebensfreude in seiner Umgebung und damit auch für den Zugang zur Lebensenergie. Die Antwort aber kann Dir niemand geben außer Du selbst. Es gibt eben keine absoluten Wahrheiten! Gott sei Dank! Das würde dem Leben den Zauber seiner Unergründlichkeit und Widersprüchlichkeit, seinen Reichtum nehmen. Nein, die Antwort mußt Du Dir selber geben. Autonom, in Eigenverantwortung. Und weil eben alles zusammenhängt, genügt es auch nicht, einmal gründlich nachzudenken. Es ist nicht nur das Gehirn gefordert, sondern auch die ganze Palette des Gefühlslebens, der Emotionen, der tieferen Schichten. Und weil das Unterfangen so leicht nicht ist – schließlich stehen uns da einige Hindernisse im Wege, eine ganze Reihe von Mechanismen, die uns zum Ausweichen verleiten, zum Kneifen, die Gehirnwäsche, die allein das Aufwachsen in dem sicheren, aber eben engen Rahmen einer Kultur mit sich bringt, die Erziehung zum Funktionieren, quasi auf Knopfdruck, wie ein Automat, der auch nicht fragt, wozu er da ist; die Unterdrückung der Gefühle, die man uns von klein auf gelehrt hat, die Überbetonung von Intellekt, die Trennung von Denken und Fühlen, wie die Trennung der Wissenschaften in all diese Spezialistentümer – nach dem Motto: „Teile und herrsche“ –, die eine ganzheitliche Sicht der Dinge, ja des Lebens so erschwert und den Blick für das Wesentliche verstellt, sowie das gelungene Kunststück unserer doch so aufgeklärten Kultur, die ganze Mystik ins Reich der Fabel, der Irrealität zu verbannen, nur weil ihre Erscheinungsformen für diese Wissenschaft eben nicht faßbar sind, sodaß die Mystik zwar weitgehend aus dem Bewußtsein verdrängt, aber natürlich nicht aus der Welt geschafft wurde (was man nicht sucht, woran man nicht glaubt, das findet man auch nicht, das läuft einem nicht über den Weg!) – all das sind ja nicht gerade unerhebliche Hindernisse im Umgang mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Und weil das Unterfangen so leicht eben nicht ist, bleibt mir auch nichts anderes übrig, als bestenfalls eine Orientierungshilfe anzubieten. Es ist der Versuch zu erkennen, was uns im Leben an Biophilem und an Nekrophilem begegnet. Diese Frage zieht sich daher auch wie ein roter Faden durch dieses Buch: Was ist förderlich für das Leben und was ist lebensfeindlich?

Und noch etwas kann ich Dir mit gutem Gewissen empfehlen: Erkenne die Lernchancen, die Dir das Leben bietet, und nimm sie an! Geh’ ihnen nicht aus dem Weg! Sie begegnen uns auf die unterschiedlichste Weise und sind selten angenehm. Schicksalsschläge, Krankheiten, Behinderungen, schmerzliche Verluste. Wir sollten ihnen nicht mit Hader begegnen, nicht mit Schuldzuweisungen an andere oder die Umstände dafür verantwortlich machen oder uns auf Symptomkuren beschränken. Die wichtigste Frage, die wir uns zu stellen haben, ist die, die unserer Denkungsweise am fernsten liegt: „Ich möchte doch wissen, wozu das gut ist.“ Und es ist zu etwas gut. Allerdings liegt das meist nicht offen auf der Hand und es bedarf manchmal mehrerer Anstöße, bis wir erkennen. Auch meine Achillessehne mußte zweimal reißen, bis ich zu schreiben begann und so für mich eine Antwort fand.

Weil wir schon bei der Sinnfrage sind und weil die Frage: Was mache ich mit meinem Leben?, Was ist meine Bestimmung?, nicht von der Frage zu trennen ist: Wer bin ich überhaupt?, kommen wir auch um die Identitätsfrage nicht herum. Dabei erscheint uns diese Frage ja bereits durch Personalausweis, Reisepaß und eine ganze Mappe voll von Dokumenten und Zeugnissen hinlänglich beantwortet. Allein, diese Antworten zielen an der Frage vorbei.


Ich war in Israel. Die Sondierungen für ein Projekt mit Teilnehmern aus verschiedenen Krisengebieten hatten mich zu dieser Reise bewogen. Daher interessierte mich besonders der Konflikt zwischen Israeli und Palästinensern. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Es war die Zeit, als die Intifada den Israeli das Leben schwer machte. Täglich gab es irgendwelche Anschläge, vor allem auf israelische Autos in den besetzten Gebieten. Die nackte Angst schlug mir überall entgegen. Nicht ohne Grund. Ich besuchte Neve Shalom, Wahat al Salam, was so viel heißt wie Oase des Friedens, und zwar auf hebräisch und arabisch. Es ist das ein Dorf, das von Israeli und Arabern gemeinsam aufgebaut wurde, in dem die Kinder zweisprachig aufwachsen, denselben Kindergarten, dieselbe Schule besuchen. Ein erfolgreicher Versuch, zu einer friedlichen Koexistenz zu finden, ja eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen. Ich hatte in Österreich über die Medien davon erfahren und in einem Buch darüber gelesen. Umso erstaunter war ich, daß ich in Israel fragen mochte, wen ich wollte, niemand kannte den Namen, niemand hatte davon gehört. Dabei liegt das Dorf zwischen Tel Aviv und Jerusalem auf einer Anhöhe, von der Straße, dieser Hauptverkehrsstraße aus, gut sichtbar. Von der Betreiberin und Betreuerin dieses Projektes erfuhr ich, daß es so gut wie unmöglich ist, in Israel damit an die Öffentlichkeit zu kommen. Kein Rundfunkbericht, kein Fernsehbericht, keine Presse. Nichts. Ich war sehr erstaunt, schien mir doch gerade ein solches Projekt ein guter Ansatz zu sein, um die Beziehungen zu normalisieren, und durchaus im Interesse der Israeli gelegen, die weiß Gott unter den Verhältnissen zu leiden hatten.

Ich hörte von einem Israeli, der einen Friedenssender betrieb. Angenehme Musik, dazwischen Friedenssprüche. Ein allseits beliebter Sender. Er wurde verboten und sendet seither von einem Schiff, außerhalb der israelischen Hoheitsgewässer. Es war mir unbegreiflich, wie es dazu kommen konnte, daß erfolgversprechende Friedensinitiativen nicht nur nicht gefördert wurden, sondern sogar behindert. Völlig unverständlich war mir ein Gesetz, das jeden unter Strafe stellte, der zu Terroristen nahestehenden Personen Beziehungen unterhielt, was im Klartext hieß: keine Kontakte zu Palästinensern. Also war auch die Normalisierung der Beziehungen per Gesetz verboten. Nicht genug damit. Ich sollte aus dem Staunen nicht herauskommen. Während die Israeli den Arabern blaue Autokennzeichen gaben, hatten sie für sich selber gelbe gewählt, so daß die Intifada-Leute schon von weitem sehen konnten, auf welches Auto sie ihre Steine zu werfen hätten. Und noch dazu die Farbe gelb! Einfach unfaßbar! Sie hatten sich selbst und freiwillig den Judenstern verpaßt.

Und noch etwas hat mich verwundert. Hatte ich schon nicht erwartet, daß ich mit meinem Projekt, das ja nicht zuletzt auch Friedensziele verfolgte, auf ungeteilte Zustimmung stoßen würde; die Reaktion, selbst in Kreisen, die um eine Normalisierung der Beziehungen bemüht waren, verblüffte mich: Wie kommen Sie als Österreicher eigentlich dazu, sich mit so einer Idee herumzuschlagen? Es war nicht das Interesse daran, wie ich auf diese Idee gekommen war. Nein, unüberhörbar war die Kritik, ja die Warnung: Das ist unser Konflikt, also halten Sie sich gefälligst raus! Und mit etwas Sensibilität konnte man sogar eine gewisse Verliebtheit in den Konflikt durchhören, als ginge es um ein Stück Torte: Was bilden Sie sich eigentlich ein, wenn Sie glauben, Sie könnten da mitnaschen! Ja, es war so etwas vorhanden wie ein gewisser Stolz auf das eigene Produkt, als ginge es um die Wahrung der Urheberrechte.

Ich hoffe, ich verliere den Faden nicht, wenn ich an dieser Stelle anmerke: Ich bin davon überzeugt, daß solche Konflikte längst nicht mehr Privatsache der Beteiligten sind. Zu klein ist unsere Erde geworden. Zu leicht werden aus Krisenherden Flächenbrände. Auch glaube ich, daß niemand das Recht hat, die Lernchance, die in jedem Konflikt liegt, für sich allein in Anspruch zu nehmen. Wir haben alle viel zu lernen!

Aber zurück nach Israel. Wunder sind nicht nur einmalige Ereignisse. Dieses Volk der Juden hat das unfaßbare Wunder zustandegebracht, in der Diaspora, verstreut über alle Kontinente, über nahezu hundert Generationen, seine kulturelle und religiöse Eigenständigkeit, seine Identität zu bewahren, allen Anfechtungen zu trotzen, denen Minderheiten in aller Welt ausgesetzt sind. Für diese Identität wurde millionenfach gelitten und gestorben. Da soll noch einer sagen, Identität sei nichts Wichtiges. Und wenn zu dieser Identität eben die Bedrohung von außen gehört, wenn zu ihr das Bewußtsein gehört, das auserwählte Volk zu sein, das das Leid dieser Welt zu tragen hat, wenn eben Bedrohung und Leid integrierender Bestandteil der Identität sind, dann gehören die beiden eben untrennbar zusammen, sie bedingen sich gegenseitig. Diese Identität, die bald zweitausend Jahre in Bedrohung und Leid überstanden hat, ja sich geradezu anhand von Bedrohung und Leid herauskristallisiert hat, diese Identität steht auf dem Spiel, wenn Bedrohung und Leid nicht aufrechterhalten bleiben. Mag sein, daß ich mit meinem Reim, den ich mir mache, irre. Aber es wäre eine Erklärung für dieses eigenartige Verhalten der Israeli in der Palästinenserfrage, das jeder Logik und Vernunft widerspricht. Diese Dinge spielen sich eben nicht auf der Ebene von Logik und Vernunft ab. Es gibt andere Ebenen, die viel genauer orten, woher die eigentliche Gefahr droht, die orten, daß mit der Identität die Kraft eines ganzen Volkes steht und fällt. Ebenen, die das Handeln bestimmen, ohne daß die Beweggründe ins Bewußtsein dringen. Ob sie allerdings immer gute Ratgeber sind? Ich wage es zu bezweifeln. Wenn nicht die Identitätsfrage genauso wie die Sinnfrage immer wieder von neuem gestellt wird, wenn nicht die Bereitschaft zur Bewegung, zur Veränderung besteht, droht die Sache nekrophil zu werden, wie eben jede Erstarrung lebensfeindlich ist und sich gleichermaßen gegen einen selbst wie gegen die Umgebung wendet.

Vielleicht gerät die Identität der Israeli in Bewegung. Vielleicht können sie ablassen von ihrem Leidenszwang. Vielleicht ist das ihr wichtigster Beitrag, das Leid dieser Welt zu verringern.

Nun aber Schluß mit Israel, sonst bekomme ich in diesem Land, das ich doch lieben gelernt habe, noch Einreiseverbot! Begeben wir uns stattdessen nach Afrika.

 

Das Wunder der Trommeln




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Irgendwo im Busch dröhnen die Trommeln. Bemalte Gestalten tanzen in ihrem monotonen Rhythmus rund um den Medizinmann, der seinen Hokuspokus zelebriert. Neben ihm liegt ein Mann. Eine Giftschlange hat ihn gebissen. Ein tödliches Gift, wenn nicht innerhalb einer halben Stunde das Gegengift gespritzt wird. Die rettende Spritze aber gibt es nicht, zu fern sind diese Menschen von unserer zivilisierten Welt. Also wird der Mann sterben. Aber er überlebt. Er besiegt das Schlangengift, oder besser gesagt, gemeinsam besiegen sie das Schlangengift. Ein Rätsel für unsere Wissenschaft. Ganz natürlich für diesen Mann: Als die Trommeln begannen, der Singsang und der Tanz, wußte er, daß er überleben würde.

Frag’ mich nicht, wie das funktioniert. Entscheidend ist wohl, daß alle Beteiligten die Gewißheit hatten, daß es funktioniert. Nenn’ es meinetwegen Plazebo-Effekt. Ist ja auch egal. Hauptsache, es wirkt. Es ist diese Gewißheit, dieses Wissen um das Leben, das die Kräfte mobilisiert. Ein ganz anderes Wissen als unser Wissen von der Integralrechnung oder der Kernspaltung. Es ist ein Wissen, das nicht einer Gehirnakrobatik entspringt, sondern einer tiefen Erfahrung, einem tiefen Gefühl, einem ganzheitlichen Erfassen des Lebens. Ich glaube, jeder hat schon solche Erfahrungen gemacht, und seien es auch nur kurze Momente, in denen sich unvermutet ein Fenster auftut, durch das wir das Wunder des Lebens schauen, in denen wir das beglückende Gefühl erleben, Teil dieses Wunders zu sein, in dem eben alles zusammenhängt. Augenblicke, ausgelöst durch einen Sonnenstrahl, einen Blick, der uns begegnet, einen Tautropfen. Augenblicke, in denen jede Sehnsucht nach Erfüllung verschwindet, denn sie sind Erfüllung. Augenblicke, in denen jede Frage nach dem Sinn unseres Daseins sich einfach nicht stellt, weil sie beantwortet ist. Momente des Wissens, des Vertrauens, einer allumfassenden Liebe, die die Unterscheidung zwischen Lieben und Geliebt-Werden nicht kennt. Momente, in denen wir von einer ungeheuren Lebenskraft erfüllt werden. Diese Kraft ist es wohl, mit der die Eingeborenen noch umzugehen verstehen, mit der sie Wunder wirken. Wunder zumindest in unseren Augen, für die nicht sein kann, was nicht sein darf. Und alles, wofür wir keine Erklärung haben, darf auch nicht sein. Und ist es dennoch, so wird es geleugnet, um unser Weltbild nicht zu erschüttern. Und läßt sich’s nicht leugnen, wird flugs eine plausible Erklärung gebastelt. Und will auch das nicht gelingen, so wird es eben in das Reich der Wunder verbannt, mit dem wir nach Möglichkeit nichts zu schaffen haben wollen, weil es uns nicht geheuer ist. Es läßt sich nämlich nicht in den Griff bekommen. Zumindest nicht mit unserer Denkungsweise und unserem wissenschaftlich-technischen Instrumentarium. Anders für die Eingeborenen, denen das wohl nicht mehr als die Bemerkung entlocken würde: So ist das eben. Oder wie es die Bäuerin genannt hat: Sein tut’s wie’s ist.

Was hat diese Geschichte nun mit der Identitätsfrage zu tun und mit der Frage nach dem Sinn des Lebens? Darüber haben wir doch gesprochen: Was in unserer Zivilisation im Umgang mit diesen Fragen einfach nekrophil läuft, und wie wir mit ihnen besser umgehen können, zu unserem Wohl und zum Wohl unserer Umgebung. Es hängt eben alles zusammen. Identität ist nicht allein das Bild, das wir uns von uns selber machen. Es ist auch das Bild von der Gemeinschaft, zu der wir uns zugehörig fühlen, in die wir eingebettet sind. Und es ist das Weltbild, das uns mit dieser Gemeinschaft verbindet wie eine geistige Nabelschnur. Das alles zusammen ist Identität. Und ohne diese Gemeinschaft, ohne diese Klammer des gemeinsamen Weltbildes hätte unser Eingeborener wohl nicht überlebt.

Nicht nur Realitäten, Tatsachen schaffen Bewußtsein, schaffen Identität. Es läuft auch umgekehrt. Auch das Bewußtsein schafft sich seine Realität, seine Wirklichkeit. Und zwar eine durchaus faßbare, eine funktionierende, wie das Beispiel vom Afrikaner zeigt.

Eine ganz bedeutende Rolle spielt dabei, daß der Mensch ein zutiefst soziales Wesen ist. – Schon wieder eine seiner optimistischen Aussagen, wirst Du jetzt denken. Dieser Mensch lebt doch in einer idealisierten Traumwelt. Sieht denn der nicht, daß die Wirklichkeit eine andere ist? „Der Mensch, ein zutiefst soziales Wesen?“ – Nein, so war das auch nicht gemeint. Zumindest nicht in erster Näherung. Ich meine damit, daß er ein sozial abhängiges Wesen ist, daß er ohne seine Mitmenschen nicht überlebensfähig ist. Am deutlichsten sichtbar ist diese Abhängigkeit in den ersten Lebensjahren. Und ist sie später auch nicht mehr so offenkundig, so bleibt sie doch ein Leben lang bestehen. Und ist diese Abhängigkeit im Bereich der Versorgung mit den lebensnotwendigen Gütern auch noch leicht einzusehen – wir sind eben eingebunden in ein vernetztes System von Aufgabenteilung –, so wird die Bedeutung im psychischen und emotionalen Bereich gerne unterschätzt. Wir brauchen eben auch die Anerkennung, die Zuwendung, die Anteilnahme nicht weniger als das Brot, um zu überleben. Wir brauchen die geistige Verwandtschaft und die Verwandtschaft der Seelen. Das ist der Grund, warum so unglaubliche Klimmzüge gemacht werden, um Anerkennung zu finden, akzeptiert zu werden in einer Gruppe.

Andererseits entspringt der Identität, diesem Bewußtsein, dieser Gewißheit, eingebettet zu sein in eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, jene Lebenskraft, die es möglich macht, Leid und Todesgefahr zu überstehen. Das ist die Message, die aus Litauen kommt, aus der DDR, aus der CSFR, aus Slowenien. Es ist die Kraft der Barfüßigen, gegen die letztlich selbst Panzer nichts auszurichten vermögen. Und das ist auch die Kraft jener Barfüßigen, von denen ich schreibe, die nur darauf wartet, geweckt zu werden, die ich im Entstehen sehe, jenes ungeheure biophile Potential, von dem ich gesprochen habe, das noch durch die Isolation auf’s Eis gelegt ist, durch das Gefühl dieser Abertausenden, mit ihren Gedanken, mit ihren Vorstellungen einsam zu sein, verlassen in einer konsumverrückten Welt voll Gier und Machtrausch. Hilflose Narren eben. Aber eine ungeheure Kraft, wenn sie zueinander finden, wenn sie ein gemeinsames Bewußtsein finden, wenn das Eis schmilzt zwischen ihnen. Ich glaube, Du bekommst langsam eine Idee, was diese ganze Barfußgeschichte will.

Aber zurück zu diesem zutiefst sozialen Wesen Mensch. Zu seiner Abhängigkeit von seinen Mitmenschen, von der Gemeinschaft, der geistigen Verwandtschaft und der Verwandtschaft der Seelen. Ebendieser Mensch ist auch ein Egoist. Er wird eben trachten, sich jenen Rahmen zu schaffen, in dem es ihm gut geht. Und das ist ganz in Ordnung. Und da eben Anerkennung und Zuwendung ganz wesentlich zu seinem Wohlbefinden beitragen, wird er auch nach Kräften darum bemüht sein. Ob er dabei auch die tauglichen Mittel findet, ist eine andere Frage. Dabei ist die Sache eigentlich ganz einfach: Wie ich in den Wald hineinrufe, so kommt das Echo zurück. Bin ich selbst fähig, mich anderen Menschen mit Interesse zuzuwenden, ihnen Anerkennung zu zeigen, Achtung entgegenzubringen, ihnen mit Anteilnahme zu begegnen, so werde auch ich auf Interesse, Anerkennung, Achtung und Anteilnahme stoßen. In einer Umgebung allerdings, in der Geld das Maß aller Dinge ist, in der einem mit allen Mitteln eingeredet wird, alles Glück sei käuflich zu erwerben, wenn man nur über genügend Geld verfügt, in einer solchen Umgebung ist es offensichtlich gar nicht so leicht, zu dieser Einsicht zu gelangen. Zu groß ist die Verleitung, in der Wahl des Mittels auf’s falsche Pferd zu setzen, auf das nekrophile Habens-Prinzip statt auf das biophile Seins-Prinzip.

 

Sein und Haben




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So, jetzt schreibe ich auch schon im Stil dieser abgehobenen, gescheiten, unverständlichen Bücher. Aber es ist genau das der Punkt, und ich hoffe doch sehr, daß es mir gelingen wird, mich verständlich zu machen. Sein oder Haben, das ist hier die Frage. Und so alt die Weisheit auch sein mag, daß Besitz nicht glücklich macht, so schwer ist es doch, jener Megamaschinerie zu widerstehen, die alle Länder der sogenannten Ersten Welt überspannt und Konsum zur Tugend, ja zur ersten Bürgerpflicht machen will. Kauf’ dir dein Glück, wird uns eingeflüstert. Und wir kaufen. Die Urlaubsreise, die uns in die erste, dritte oder fünfte Hotelreihe verschachtelt, je nach Brieftasche mehr oder weniger Glück. Und da das eigentliche Glück für uns darin besteht, unsere Nachbarn damit zu nerven, daß wir uns mehr Glück kaufen können als sie, kaufen wir uns eine Fotoausrüstung oder besser eine Videokamera. Das verspricht einen Abend, der das Selbstwertgefühl wieder einmal gewaltig anhebt. Nur ist der Nachbar auch nicht faul. Sein Wohnmobil hat alle Finessen, vom Kühlschrank bis zur Toilette. Und überhaupt, die Hubers, mit ihrem Ferienhaus in den Bergen ... Da ist man schon in einer teuflischen Spirale, und das Selbstwertgefühl bekommt immer wieder einen argen Dämpfer aufgesetzt. Wie erfolgreich man auch sein mag: Das Habens-Prinzip ist unersättlich. Es bringt uns zum Rotieren, das Leben bleibt auf der Strecke. Ob es nun der Konkurrenzkampf ist, der uns antreibt, oder die Existenzangst, die dazu führt, daß wir unser Dasein durch mehr und mehr Besitz abzusichern versuchen, das was wir anstreben, Anerkennung, Achtung und Anteilnahme, erreichen wir nicht. Wir ernten wohl eher Neid, Mißgunst und Intrige. Und da das eigentliche Ziel, eingebettet zu sein in eine Gemeinschaft von Menschen, die einander mit Wohlwollen, Sympathie, Interesse und Hilfsbereitschaft begegnen, unerreicht bleibt, verdoppeln wir unsere Anstrengungen. Allein, jedem Erfolg, jedem Glücksgefühl, daß wir uns etwas leisten können, einen Wunsch erfüllen, folgt der Frust auf den Fuß: das Scheitern auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Aber was sollen wir denn machen? Wir haben ja nichts anderes gelernt. Wenn wir als Kinder unsere Zuwendung in Form einer Belohnung bekommen haben für ein aufgeräumtes Spielzeug, eine gute Schulnote, dann haben wir noch Glück gehabt. Wie viele Kinder haben überhaupt keine andere Chance, die Aufmerksamkeit der Eltern zu erreichen, als ihnen in irgendeiner Weise auf die Nerven zu fallen. Tun sie das nicht, stehen sie wie ein poliertes Möbelstück unbeachtet in der Ecke. Und was Hänschen gelernt, verlernt Hans nimmermehr. Jeder kennt sie, diese Nervensägen, Kinder wie Erwachsene.

Bin ich wieder einmal abgeglitten, vom Thema abgekommen? Was hat das mit dem Habens-Prinzip zu tun? Meine Antwort kennst Du: Es hängt alles zusammen. Wenn wir unser Leben nach dem Habens-Prinzip organisieren, dann hat das eben solche Folgen: Wir teilen nicht unser Leben mit Kindern. Wir HABEN Kinder. Wir betrachten sie als unseren Besitz. Wir verfügen über sie. Und sind sie widerspenstig, so müssen sie eben gefügig gemacht werden. Bevorzugtes Mittel ist Belohnung für Wohlverhalten und Entzug für Nichterfüllung unserer Vorstellungen. Das Ganze spielt sich vornehmlich auf materieller Ebene ab, wie es eben dem Habens-Prinzip entspricht. Und so versuchen wir auch unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu organisieren, eine Freundschaft, eine Liebesbeziehung, eine Partnerschaft in den Griff zu bekommen. Was Wunder, wenn so viele Beziehungen scheitern. Zuwendung kann ich eben weder kaufen, noch durch einen Sieg im Konkurrenzkampf erringen. Da sitze ich auf dem falschen Pferd. Weder das Mehr-Haben und die dadurch gegebene Möglichkeit, Menschen in Abhängigkeit zu halten, noch das Besser-Sein, Stärker-Sein, Erfolgreicher-Sein als der andere führen zum Ziel. Beides ist gleichermaßen nekrophil, zerstörerisch.

Wie aber soll ich vom Leben reden? Vom Seins-Prinzip, von der Kommunikation? Vom Gegenteil dessen, was wir uns so tief verinnerlicht haben? Denn wie das Seins-Prinzip den Gegenpol zum Habens-Prinzip darstellt, so ist Kommunikation der Gegenpol zu Konkurrenz. Konkurrenz ist der Todfeind der Kommunikation. Oder sagen wir besser der Beziehung, zu der es eben dazugehört, daß wir uns gegenseitig öffnen, rückhaltslos, ohne Tricks, ohne Hintergedanken.

Wie soll ich vom Leben reden, wenn bei uns das Wissen um das Seins-Prinzip, das Wissen um die Dinge, die eine Beziehung tragfähig machen, zu einem Gewinn für beide Teile, in irgendeinen hinteren Winkel einer tieferen Schicht verdrängt worden ist, weil wir nur gelernt haben, erfolgreich zu sein? Wir stecken in einer tiefen Identitätskrise. Im persönlichen Bereich wie im gesellschaftlichen, soferne sich diese beiden Bereiche überhaupt trennen lassen. – Es hängt eben alles zusammen.

Solange wir meinen, es seien unser Besitz und unsere Macht, über Dinge, Menschen, Tiere, Umwelt zu verfügen, die unseren Wert, unsere Bedeutung ausmachen, solange wir meinen, wir seien das, was wir haben, unser Besitz, unser Geld, unsere Titel, Zeugnisse, Berechtigungen und unsere Verfügungsgewalt, solange wir uns selbst als Habende, Besitzende, Verfügende verstehen, sind wir auf dem Holzweg. Solange wir glauben, uns selbst über das Habens-Prinzip definieren zu müssen, führt das nicht zu jener Identität, die sich von der Persönlichkeit her begründet, vom Menschen, von seiner Fähigkeit, geben und nehmen zu können, seiner Fähigkeit, Glück und Leid teilen zu können, von seiner Fähigkeit, sich zu begeistern, aber auch empört zu sein, von seiner Fähigkeit, sich und die Welt anzunehmen, wie sie ist, sich und die Welt zu lieben und auch Liebe anzunehmen, von seiner Fähigkeit, in Bewegung zu sein, sich zu entwickeln, zu entfalten, eben zu leben, mit allen Höhen und Tiefen, die das Leben mit sich bringt. Hier steht uns das Habens-Prinzip, das Konkurrenz-Prinzip arg im Wege.

Das ist die persönliche Seite der Identitätskrise. Da aber Krise nichts anderes heißt, als daß etwas in Bewegung gerät, in eben diese Bewegung, die das Leben ausmacht, ja die das Leben ist, liegt auch die Chance in der Krise. Krise ist eine Weggabelung, bei der sich zeigen wird, ob wir den richtigen Weg wählen oder den falschen, den biophilen oder den nekrophilen, ob das Seins-Prinzip sich durchsetzt, das Beziehungsprinzip oder das Habens-Prinzip, das Konkurrenzprinzip. Es wird sich weisen, ob der Mensch als sozial abhängiges Wesen durch die Vorherrschaft des Habens-Prinzips auf der zwischenmenschlichen, der sozialen Ebene verkümmert, oder ob die soziale Abhängigkeit dazu führt, daß er seine sozialen Fähigkeiten entdeckt und entwickelt, daß das Seins-Prinzip überwiegt, so daß auch die in ihm angelegte soziale Seite zum Tragen kommt.

Wenn wir die einfache Weisheit umsetzen „wie ich in den Wald hineinrufe, so kommt das Echo zurück“, dann verwirklichen wir uns als soziale Wesen, als Menschen, die so etwas wie christliche Nächstenliebe praktizieren. Aber nicht als Pflichterfüllung, nicht in widerwilligem Gehorsam, weil die Gebote es uns auferlegen, weil von uns eben die Einhaltung von Moralnormen gefordert wird, nicht unter Verleugnung unserer eigenen Bedürfnisse, unserer egoistischen Seite, sondern aufrichtig, ehrlich uns selbst gegenüber, unseren Egoismus annehmend, in dem Bewußtsein, daß es uns dabei eben besser geht. Es wird sich weisen, ob wir diese Identitätskrise als Lernchance zu nutzen verstehen, ob wir die Herausforderung annehmen. Eine Herausforderung, bei der es um viel mehr geht als nur um etwas mehr persönliches Glück und Erfüllung im Leben, um mehr als nur darum, die Klippen etwas besser umschiffen zu lernen. Nein. Bei allen positiven Veränderungen, die wir vornehmen können, bleibt das Leben ein Weg über Höhen und durch Tiefen. Die anhaltende Glückseligkeit ist eine Illusion. Gott sei Dank! Sie wäre schrecklich. Wir brauchen auch die Tiefen, die Krisen. Wenn wir sie annehmen, ihren Sinn erkennen, kann uns jede Krise einen Schritt weiterbringen. So wichtig unser bißchen Lebensglück für uns auch sein mag, es geht um viel mehr: Glückliche Menschen stecken an, sie färben ab auf ihre Umgebung. Das kann eine Lawine ins Rollen bringen.

Damit wir uns richtig verstehen. Ich sage nicht: Verkneif’ Dir Deine Wünsche, entsage den materiellen Dingen, lege ein Armutsgelübde ab und folge dem Heiligen Franz von Assisi. Nein. Ich sage: Finde Deinen Weg. Leiste Dir, was immer für Dich wichtig ist, aber tue es nicht unbedacht. Stell’ Dir immer wieder die Frage, brauche ich das wirklich? Und Du wirst immer öfter und klarer erkennen: Nein, das brauche ich wirklich nicht. Und so wirst Du auch nicht dieser Automatik verfallen, dieser unersättlichen, immer mehr und mehr haben zu müssen, Dir immer mehr leisten zu müssen. Du wirst der Gefahr entgehen, ins Rotieren zu kommen, in diese geistabtötende Mühle, in der es keine Zeit gibt zum Denken, keine Zeit für Muße, keinen Platz für Gefühle, für die Hinwendung zum anderen Menschen, diese Mühle, die schon so manche hoffnungsfrohe Beziehung zermahlen hat, die auf der Stelle tritt und so oft mit der Bewegung verwechselt wird, die das Leben ausmacht.

Soviel zum persönlichen Bereich der Identitätskrise, die durch das Überhandnehmen des Habens-Prinzips in unseren Breiten ausgelöst wurde, die zum Rotieren führt statt zur Bewegung, und der man durch die einfache Frage: „Brauche ich das wirklich?“ gar nicht so schwer entkommen kann.

Nun aber zum anderen Bereich der Identitätskrise, zum gesellschaftlichen. Krise heißt ja nichts anderes, als daß wir vor eine Veränderung gestellt sind, auf die wir uns einstellen müssen. Wenn die Lebensumstände, die Lebensbedingungen sich ändern, geht es irgendwann nicht mehr so, wie die Eltern, die Großeltern es gemacht haben. Wir müssen uns etwas Neues einfallen lassen, neue Lösungen. Irgendwann hört die Tradition auf zu funktionieren, und es kommt zum Konflikt zwischen Altbewährtem und Erneuerung. Es ist wohl das auch der Grund für die Identitätskrise in Israel, für das paradoxe Verhalten der Israeli in der Palästinenserfrage: Das Leben in einem eigenen Staat ist eben etwas anderes als in der Diaspora, verstreut als Minderheiten in aller Herren Länder. Der Erfahrungsschatz von fast 100 Generationen, der sich als Orientierungshilfe im Leben der Juden in der Diaspora bewährt hat, die Tradition, die den Rückhalt dieses Volkes gebildet hat, diese Identität, die ihm die Überlebenskraft gegeben hat, all das erweist sich nun im Staat Israel unter den veränderten Bedingungen, die ein eigener Staat der Juden mit sich gebracht hat, eher als hinderlich bei der Bewältigung dieser so anderen Probleme. Was sich in der Diaspora bewährt hat, muß sich im Staat nicht bewähren. Es gibt eben Rezepte zum Kochen und Rezepte zum Backen. Und das Kochen mit dem Backrezept wird nicht funktionieren. Nur ist es nicht so einfach, das andere Rezept herzunehmen, wenn damit so tiefgreifende, die Wurzeln eines Volkes berührende Dinge verbunden sind, wie das Antasten der Identität.

Was gehen uns die Probleme der Israelis an? wirst Du Dich jetzt vielleicht fragen. Ihre Identitätskrise, sofern sie überhaupt eine haben, ist ja wohl ihre eigene Sache. Da magst Du wohl recht haben. Andererseits ist es oft leichter, aus den Schwierigkeiten anderer zu lernen. In den eigenen Problemen steckt man ja meistens mit einer Art Betriebsblindheit drinnen. Mit einer Betriebsblindheit, die uns die Lösungsmöglichkeiten nicht sehen läßt und uns nur zu oft in eine Sackgasse geraten läßt. Diese eigene Betriebsblindheit rührt ja meistens gerade daher, daß wir einer Identität anhängen, an einem Selbstverständnis festhalten, an dem sich die Wirklichkeit längst vorbeientwickelt hat. Und vor die Wahl gestellt, an der Identität Veränderungen vorzunehmen oder an der Wirklichkeit, neigen wir allemal dazu, an der Wirklichkeit herumzubasteln, was nichts anderes bedeutet, als daß wir uns in eine Scheinrealität begeben, weil wir die Dinge, so wie sie wirklich sind, mit unserem Selbstverständnis, unserer Identität nicht in Einklang bringen können. Dieser Ansatz aber ist nekrophil, denn er führt zur Lebenslüge, mit der man nicht glücklich wird und auch niemanden glücklich macht. Da ist es schon angezeigt, sich die Probleme anderer anzusehen, wo uns unsere Neigung, die eigene Identität zu schützen, vor notwendigen Veränderungen zu bewahren, weniger im Wege steht. Und am Ende kommen wir dahinter, daß unsere eigenen Identitätsprobleme sich im Grunde wenig von denen anderer unterscheiden. Wenn wir das eingesehen haben, haben wir einen guten Schritt voran gemacht, dann können wir unsere eigenen Probleme offener in Angriff nehmen, und nur darum kann es gehen, um unsere eigene menschliche Entwicklung. Nur das und nichts anderes kann unser Beitrag sein! Und wir sollten uns sehr davor hüten, uns missionarisch an die Lösung der Probleme anderer zu machen. Das hat schon viel Unheil gebracht.

 

Lernen




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Der Club of Rome, dieses Forum prominenter Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Politik hat durch seinen Umweltbericht Anfang der 70er Jahre erstmals dazu geführt, daß drohende Umweltprobleme überhaupt in das öffentliche Bewußtsein gelangt sind. Wenn die düsteren Prophezeiungen in diesem Ausmaß schließlich nicht eingetroffen sind, so führe ich das nicht zuletzt auf den Umweltbericht selbst und seine bewußtseinsbildende Wirkung zurück. Die „selffulfilling prophecy“, diese Prophezeiung, die sich selbst erfüllt, weil sie geglaubt wird, ist eben auch nur die eine Wahrheit. Diese dunkelgrauen Weltuntergangsschriften, von denen ich gesprochen habe, die selbst ein Beitrag zum Weltuntergang zu werden drohen, weil sie Frust, Lethargie, Angst und Resignation verbreiten, die sind die eine Wahrheit. Die andere ist offensichtlich genauso wahr, daß nämlich die Prophezeiung sich selbst Lügen straft. Sie hätte nur gestimmt, wäre sie nicht gemacht worden. Ähnlich der Geschichte von dem zum Tod Verurteilten, dem der Herrscher Gnade verspricht, wenn er ihm eine Wahrheit sagen würde, und der ihm daraufhin sagt: Du wirst mich hinrichten.

Dieser Club of Rome, dessen Thema die ökologische Krise war, hat seinerseits im Bericht für die 80er Jahre einen für mich erstaunlichen Themenwechsel vorgenommen. Das neue Thema lautete „Lernen“. Und ich sollte sehr bald erkennen, daß die beiden Themen sehr viel miteinander zu tun haben, ja daß die Frage, wie kommen wir mit der ökologischen Krise zu Rande, gerade zwangsläufig zum Thema „Lernen“ führte. Die Aussage des Buches war kurz umrissen folgende: Immer schon haben Menschen auf zwei Arten gelernt. In Phasen relativer Ruhe, in denen sich wenig verändert hat, so daß die Erfahrungen der Elterngeneration auch noch für die Nachkommen gültig waren und brauchbar, überwog stets das tradierende Lernen, das Weitergeben von Erfahrungswerten. In Krisen hingegen, in denen veränderte Bedingungen, seien sie nun durch Naturkatastrophen, Kriege oder Seuchen hervorgerufen worden, dazu führten, daß die Erfahrungen der Vorfahren zur Lösung der Probleme nicht mehr brauchbar waren, hat innovatives Lernen vorgeherrscht, also das Finden neuer Lösungsmöglichkeiten, das Lernen aus der Krise. Beide Lernformen erweisen sich hingegen als untauglich, wenn eine Krise ins Haus steht, die die Lebensgrundlage auf diesem Globus zerstört. Da eine solche Krise eine durchaus reale Bedrohung darstellt, eine Bedrohung, die es in der gesamten Menschheitsgeschichte nie gegeben hat, weil Krisen immer regional begrenzt waren, während es heute der Mensch in der Hand hat, sich global die Lebensbasis zu entziehen, reichen diese beiden Formen des Lernens nicht mehr aus, denn in einer solchen Krise ist das Reagieren zu spät. Es geht um das Vermeiden dieser Krise, um das Vorbeugen. Sie nennen das „antizipatorisches Lernen“. Um dieses vorausschauende Lernen, um das Abschätzen der Folgen des eigenen Handelns geht es wohl. Und auch hier wieder im großen wie im kleinen. Auch hier ist es eine Illusion zu glauben, im großen, in der großen Politik, in der Weltwirtschaft, in der Großfinanz könnte funktionieren, was wir im kleinen, in unserem persönlichen Umfeld nicht schaffen.

Ich glaube dem Autofahrer, der mir beteuert, es sei nicht seine Absicht gewesen, das Kind anzufahren, er habe einfach nicht damit gerechnet, es könnte auf die Straße springen. Ich nehme dem Betriebsleiter des asbestverarbeitenden Betriebes die Betroffenheit über seine an Asbestose verstorbenen Arbeiter ab. Und ich glaube ihm auch, wenn er sagt, das Ausmaß der Gefährlichkeit von Asbeststaub sei ihm nicht bewußt gewesen. Und auf die Häufung der Erkrankungen und Todesfälle habe er umgehend mit Sicherheitsvorkehrungen reagiert. Allein, mit dem Vorwurf der Fahrlässigkeit wird er leben müssen, mit dem Vorwurf, sich nicht hinreichend informiert zu haben, denn die Gefährlichkeit von Asbeststaub war schon 30 Jahre früher bekannt und es gab reichlich Literatur zu dem Thema.

Ein Spruch, den ich nicht sehr schätze, denn er entspringt einem anderen Denken, einer Geisteshaltung, die wir hoffentlich bald überwinden, lautet: „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“! Ich würde ihn gerne abändern und sagen: „Unwissenheit schützt vor den Folgen nicht“! Ja, Unwissenheit führt geradezu zwangsläufig zu einem bösen Erwachen. Und für Unwissenheit würde ich gerne ihre Ursachen setzen: Unachtsamkeit, Gedankenlosigkeit, dieses Wegschauen eben, dieses Verdrängen, das gerade dort immer und immer wieder stattfindet, wo Unangenehmes zu erwarten ist. Und hier ist wohl der wichtigste Ansatzpunkt für antizipatorisches Lernen. Es geht eben um verantwortungsbewußtes Handeln, und das wird heute gerne mit rechtlicher Absicherung verwechselt. Die Straßenbaufirma, die ausgerechnet auf dem drei Kilometer langen geraden, neu ausgebauten, breiten Straßenstück die Tafel mit der Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h aufstellt, weil die Bankette noch nicht befestigt sind, sichert sich zwar rechtlich ab, aber sie handelt nicht verantwortungsvoll, denn sie verleitet dazu, daß Verkehrszeichen nicht ernst genommen werden. Wenn es in einem Skigebiet einen Hang gibt, der nur zwei oder drei Tage im Jahr lawinengefährdet ist, und die Liftgesellschaft stellt dort vom ersten bis zum letzten Betriebstag eine Lawinenwarntafel auf, die niemand beachtet, so sichert sie sich rechtlich ab. Verantwortungsvoll würde sie handeln, wenn sie den Hang freigeben würde, an den wenigen kritischen Tagen aber wirksam sperren würde. Ich glaube, der Unterschied ist klar, und Du verstehst auch, daß eine bis in die kleinsten Details verrechtlichte Gesellschaft die Entwicklung von Verantwortungsbewußtsein nicht gerade erleichtert. Aber gerade darum geht es im Kleinen wie im Großen, in unserem persönlichen Umfeld, unserem Beruf, unserer Familie, unserem Freundes- und Bekanntenkreis wie in der großen Politik. Es geht um die Art, wie verschiedene Gesellschaften, Kulturen, Weltanschauungen miteinander umgehen. Und das gilt auch für den persönlichen Bereich der Identitätskrise, von der ich gesprochen habe, dieser Krise, die durch das Überhandnehmen des Habens-Prinzips entstanden ist. Es wird sich weisen, ob wir auf unserem Recht beharren, uns auch zu leisten, wozu wir in der Lage sind, oder ob wir beginnen, die Verantwortung für uns und unsere Nachkommen zu übernehmen, ob wir die Bereitschaft entwickeln, uns die Zusammenhänge etwas genauer anzusehen, auch wenn sie unangenehm sind, ob wir bereit sind, uns um die erforderliche Information zu bemühen, damit wir nicht eines Tages mit dem Vorwurf leben müssen, es hätte in unserer Macht gelegen, Unheil zu vermeiden, aber wir hätten aus Bequemlichkeit, aus Unachtsamkeit, Gedankenlosigkeit, meinetwegen auch aus Pflichtbewußtsein, Loyalität oder Betriebsblindheit etwa nur die rechtliche Seite gesehen und es verabsäumt, die nötigen Informationen einzuholen. Es wird sich weisen, ob wir uns dem antizipatorischen Lernen öffnen. Oder auf eine einfache Formel gebracht, ob wir uns die Frage „brauche ich das wirklich?“ immer wieder und ehrlich stellen. Dann kommen uns die nötigen Informationen schon zu, dann haben wir auf einmal das richtige Buch in Händen, hören kritische Sendungen im Radio, drehen das Fernsehgerät zur rechten Zeit an, beginnen die Informationen zu vernetzen, beginnen zwischen den Zeilen zu lesen, beginnen, uns unseren eigenen Reim auf die Dinge zu machen, und beginnen zu erkennen, welchen Gewinn ein Verzicht mit sich bringen kann. Die einen sagen, es gäbe eben keinen Zufall und alles, was wir für unsere Entwicklung brauchen, falle uns zu, aus höherer Fügung. An uns läge es nur, die Chancen zu nützen, die Chancen für antizipatorisches Lernen. Die anderen führen dieses Phänomen auf die selektive Wahrnehmung zurück, auf die Tatsache, daß der Mensch eben nur die Dinge wahrnimmt, für die er reif ist. Wo immer die Ursachen liegen mögen, es ist eben so, daß, wenn unser Bewußtsein sich für ein Thema, für eine Problematik geöffnet hat, wir diesem Thema in unserer Umgebung auf Schritt und Tritt begegnen, wie in einem Spiegel: Wir kommen auf einmal „zufällig“ mit Leuten zusammen, mit denen wir darüber reden, die auf derselben Spur sind. Wir stoßen rein „zufällig“ auf die Ankündigung einer Veranstaltung zu dem Thema, wir sehen „zufällig“ genau das Buch in der Auslage usw. Wer da noch an Zufälle glaubt, na ja, macht auch nichts, der soll ruhig an Zufälle glauben.

Nun aber zurück zur Identitätskrise und zu ihrem gesellschaftlichen Bereich. Auch hier geht es um verantwortungsbewußtes Handeln, um die Bereitschaft, genauer hinzusehen, sich den Informationen aufzuschließen, sich seinen eigenen Reim darauf zu machen, die Dinge zu vernetzen, die Hintergründe und Motive zu erkennen und die Folgen abzusehen, eben darum, antizipatorisch zu lernen. Und das haben wir alle bitter nötig, denn nicht nur die Israeli haben so etwas wie eine Identitätskrise. Wir haben sie alle. Die Nischen, in denen eine Gesellschaft stabil mit einem intakten Weltbild leben kann, aus dem sie ihre Kraft bezieht, mit der sie solche Wunder vollbringt wie die Heilung des von der Schlange Gebissenen, solche Nischen sind auf unserer Erde im Verschwinden egriffen. Funktionierende Weltbilder, tragfähige gesellschaftliche Identitäten gehen reihenweise in die Brüche, unwiederbringliche Kulturleistungen zerbrechen an der Konfrontation mit der sogenannten zivilisierten Welt. In Nord-, Mittel- und Südamerika ist es bereits so weit. Wir versuchen heute vergeblich, die Scherben der Indianerkulturen, der Inka- und Mayakulturen zusammenzuflicken. In Australien haben wir es mit den Aborigines geschafft, und die meisten afrikanischen Eingeborenen-Kulturen haben kaum noch Überlebenschancen. Und während wir dieses Werk vollbringen, übersehen wir ganz, daß wir unsere eigenen Kulturen, unsere eigene Identität nicht minder in die Krise manövriert haben. Ich sehe darin nichts Schlechtes. Wie ich gesagt habe, sehe ich in jeder Krise eine Chance. Die Dinge ändern sich eben. Langsam in Phasen relativer Ruhe, rasch in der Krise. Die Geschwindigkeit, in der sie sich heute ändern, hat es in der Menschheitsgeschichte allerdings noch nie gegeben. Der rasante technische Fortschritt stellt uns täglich vor neue Tatsachen, auf die wir reagieren müssen, nicht nur durch innovatives Lernen, indem wir uns eben an die Veränderungen anpassen. Vor allem müssen wir antizipatorisch lernen; das heißt, die Verantwortung für die Richtung übernehmen, in die die Entwicklung weitergehen soll. Wir müssen das Steuer in die Hand nehmen.

Die technische Entwicklung hat unsere Erde schrumpfen lassen. Ein Kommunikationssystem, mit dem eine Nachricht nicht mehr Monate braucht, bis sie von einem Kontinent zum anderen gelangt, sondern gleichzeitig rund um den Globus empfangen werden kann, hat den Veränderungsprozeß ungeheuer beschleunigt. Wir leben in einer spannenden Zeit. Die Gesellschaften, in denen noch ein unangefochtenes Weltbild die Basis für die gemeinsame Identität bilden konnte, gehören bald der Vergangenheit an. Und einzelne Versuche, sich abzuschotten, wie es etwa Albanien gemacht hat, sind auch zum Scheitern verurteilt. Das geht nicht mehr. Zu klein ist die Erde geworden, zu hochentwickelt das Kommunikations- und Informationsnetz, das sie umspannt, zu mobil sind die Menschen geworden, um nicht tagtäglich mit anderen Kulturen, anderen Weltbildern, anderen Gesellschaftsformen, anderen Werthaltungen, anderen religiösen Vorstellungen und Gefühlen konfrontiert zu werden.

Auch hier stellt sich die Frage, wie gehen wir damit um?

Die einfachste und bequemste Art ist, wie unser Urlauber auf Mallorca alles Andersartige als rückständig, asozial oder als des Teufels zu verdammen. Und es finden sich auch immer wieder Demagogen, die die Abneigung der Menschen, am eigenen Weltbild Korrekturen vorzunehmen, geschickt dazu nutzen, die anderen als Feinde, als Bedrohung für das Gute, Edle und Schöne hinzustellen. Die Folgen dürften mittlerweile hinlänglich bekannt sein. Sosehr dieser Umgang mit anderen Kulturen das Selbstwertgefühl heben mag, sosehr ist er doch nekrophil und einem friedlichen Zusammenleben abträglich. Es ist das das Grundschema des Fundamentalismus, ob im religiösen, politischen oder wirtschaftlichen Bereich. Der Fundamentalist wähnt sich im Besitz der absoluten Wahrheit.

Die zweite Art des Umganges mit der Andersartigkeit ist die Toleranz. Sie ist auch noch relativ leicht zu schaffen. Sie erfordert ja noch keine Korrektur des eigenen Weltbildes, kein Umdenken. Sie läßt ja noch keine Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Vorstellungen aufkommen. Toleranz heißt ja lediglich, es soll jeder auf seine Art glücklich werden. Dahinter steckt aber noch immer die Überzeugung: Gelingen kann es ihm natürlich nur auf meine Art, denn sie ist die richtige. Aber immerhin ist Toleranz bereits etwas weniger nekrophil und läuft nicht mehr mit dieser fatalen Automatik auf gegenseitige Vernichtung hinaus.

Die dritte Art, mit Andersartigkeit umzugehen, ist das Erkennen des Reichtums, der in der Verschiedenheit der Kulturen liegt, die Menschen hervorgebracht haben. Die ist gewiß die schwierigste, weil sie die meiste Arbeit an der eigenen Identität erfordert. Wahrheiten, die widersprüchlich erscheinen, müssen uneingeschränkt als Wahrheiten nebeneinander in unserem Hirn und unserem Gefühl Platz finden. Wir geben damit sehr viel Sicherheit und Geborgenheit auf, verabschieden uns geistig und emotional aus manch liebgewonnener Gemeinschaft. Aber wir gewinnen damit Bewegung, gewinnen Leben. Wer allerdings seine Wurzeln verleugnet, mit seiner Herkunft bricht, um Weltbürger zu werden, wird wohl auch Schiffbruch erleiden. Die Identität des Weltbürgers gibt es nicht, wohl aber eine vielversprechende Suche nach Gemeinsamkeiten und Verbindendem mit den unterschiedlichsten Kulturen und Teilhabe an dem Reichtum, den sie darstellen. Horizonterweiterung, in der unsere Identität stets auf’s neue gefordert ist.

Hier sehe ich eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Eine Herausforderung, die sich noch nie in dieser Brisanz gestellt hat. Das Aufeinanderprallen verschiedenster Kulturen hat es noch nie in diesem Ausmaß, dieser Heftigkeit und dieser Geschwindigkeit gegeben. Das Verteufeln anderer Kulturen, diese missionarisch fundamentalistische Grundhaltung, mit der etwa der weiße Mann die Eingeborenenkulturen vernichtet hat, gehört noch nicht der Geschichte an. Sie ist noch tägliche Realität, Rechtfertigung für Gewaltanwendung und Unterdrückung. Wird es gelingen, den Reichtum zu erkennen, ihn schätzen und lieben zu lernen, die Herausforderung anzunehmen und mit dieser traurigen Tradition von Gewalt und Unterdrückung zu brechen? Das ist wohl eine offene Frage. Wie in so vielen Bereichen stelle ich auch hier gegenläufige Tendenzen fest. Positive, die allen Grund zur Hoffung geben, aber auch negative. Und wieder wird es notwendig sein, daß ich mit Dir auch ein wenig über die negativen spreche, über die Dinge, die den Schritt hin zu einem biophilen Umgang mit dem Fremden, dem Andersartigen erschweren. Jenen Schritt, der, wie mir scheinen will, darüber entscheiden wird, wie lange noch Menschen den blauen Planeten bewohnen werden.

 

Fundamentalismus – eine Geisteshaltung




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Wir kommen nicht umhin, uns die Geisteshaltung des Fundamentalismus etwas genauer anzusehen. Vom Islam wissen wir in der christlichen Welt herzlich wenig. Den „heiligen Krieg“, den der Iran unter dem schiitischen Fundamentalisten Ayotollah Khomeini gegen den Irak geführt hat, haben wir, wie so viele andere Nachrichten aus der fernen Welt, recht gelassen zur Kenntnis genommen. Daß im Iran hunderte Menschen ihr Leben lassen mußten, weil sie mit dem fundamentalistischen Regime in Konflikt geraten waren, und daß Abertausende ihr Leben gelassen haben, weil sie für den Fundamentalismus in den Krieg gezogen sind, hat uns, wie mir scheint, weniger berührt, als daß dieser islamische Fundamentalismus mit seiner Todesdrohung für den Schriftsteller Salman Rushdie in unsere heile Welt gedrungen ist. Daß ein Schriftsteller, weil er in einem Roman die religiösen Gefühle der schiitischen Fundamentalisten verletzt hat, ihre Wahrheiten in Zweifel gezogen, sein Recht auf Leben, auf ein Dasein auf dieser Erde verwirkt haben soll, daß mitten in England ein Mensch der Todesdrohung ausgesetzt ist, weil er von seinem Recht der dichterischen Freiheit Gebrauch gemacht hat, das geht unter die Haut. Das zwingt auch uns, uns mit dem Fundamentalismus auseinanderzusetzen. Und schon reiten wir, ohne es zu merken – wie könnte es auch anders sein –, auf einem fatalen Mechanismus: Wir schieben alles Böse in den Iran und siedeln alles Gute in unserer aufgeschlossenen und toleranten Gesellschaft an. Das erspart uns die Mühe zu hinterfragen, was das Wesen der fundamentalistischen Geisteshaltung ist, und vor allem, ob nicht auch bei uns etwas davon zu finden sei. Allerdings kommen wir auf diese Weise keinen Millimeter voran, und die Herausforderung, an einem friedlichen Zusammenleben der Völker mit ihren unterschiedlichen Kulturen mitzuwirken, den gegenseitigen Respekt zu fördern, dem gemeinsamen Überleben eine Chance zu geben – und es gibt nur ein gemeinsames Überleben oder keines, das sollte uns klar sein! –, diese Herausforderung bleibt unerkannt, die Chance ungenützt, wenn wir nicht beginnen, bei uns Nachschau zu halten, ob unsere Weste wirklich so rein ist, wie wir sie gerne hätten. Ich fürchte, sie ist es nicht.

Ich habe bewußt von der Geisteshaltung des Fundamentalismus gesprochen. Es ist nicht der Islam fundamentalistisch, sondern die geistige Grundhaltung, mit der manche Ayotollahs den Koran, die heilige Schrift des Islam, auslegen. Das ist wichtig zu verstehen, daß nämlich das Problem nicht in einer Religion liegt, sondern in einer Geisteshaltung, die sich in beliebigen Lebensbereichen äußern kann, nicht nur in der Religion. So gibt es z. B. den naturwissenschaftlichen Fundamentalisnus, den Fundamentalismus kommunistischer Weltanschauung, den Fundamentalismus im Christentum, in der Geschichtsauslegung oder der modernen Medizin. Alle haben sie eines gemeinsam, daß sie andere Wahrheiten als die eigene nicht ertragen können. Nicht in ihrem Machtbereich. Und um Macht und Einfluß geht es letztlich überall, wo sich fundamentalistische Züge zeigen. Neben Macht und Stärke liegt aber auch die Schwäche fundamentalistischer Systeme in dieser Intoleranz, dieser Gleichschaltung. Wo der Befehl „im Gleichschritt marsch! “ ohne Widerspruch befolgt wird, ist Macht und Stärke, aber auch Schwäche : Die ständige Bedrohung durch andere Wahrheiten. Wo immer sie ein Schlupfloch in die Köpfe und Seelen finden, gerät die Macht in Gefahr zu zerfallen. Perestroika und Glasnost mußten letztlich zum Zerfall der Weltmacht Sowjetunion führen. Und so ist es nur zu verständlich, daß fundamentalistische Systeme andere Wahrheiten als die eigene nicht ertragen können, und daß schon die bloße Beschäftigung mit möglichen anderen Wahrheiten, ja die bloße Fragestellung, ob es nicht etwas anderes auch geben könnte, mit allen zur Verfügung stehenden Machtmitteln verfolgt wird. Natürlich sind die Machtbereiche unterschiedlich und auch die möglichen Machtmittel. Khomeinis Machtbereich erstreckte sich über den ganzen Iran, und seine Machtmittel reichten bis hin zur Todesstrafe. Der Machtbereich der modernen Medizin beschränkt sich auf die Heilkunde in den Industrieländern, und auch die Machtmittel sind beschränkt: Die Todesstrafe für den Homöopathen gibt es nicht. Wohl aber seine Ächtung und die Tabuisierung des Themas, wodurch eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit der Homöopathie unmöglich gemacht werden soll.

Wenn Du mir nun sagst: Ganz so ist das ja wohl heute nicht mehr, dann gebe ich Dir nur zu gerne recht. Wie ich gesagt habe, gibt es ja neben den negativen auch positive Tendenzen. Und das ist eine sehr positive Tendenz, daß nämlich Tabus immer schwerer aufrecht zu erhalten sind. In unseren Breiten lassen sich immer weniger Menschen das Maul verbieten. Sie machen immer mehr von ihrem Recht auf Meinungs- und Redefreiheit Gebrauch.

Vor einiger Zeit gab es das 15-jährige Jubiläum des Club 2, dieser Live-Diskussionssendung im österreichischen Fernsehen. Da wurde bedauert, daß diese einst so mutige Sendung, die stets die heißesten Themen aufzugreifen gewußt hat und immer wieder die heftigsten Gegner an den Gesprächstisch gebracht hat, daß diese Sendung, die so manches Tabu gebrochen hat, an Brisanz verloren hat, weil ihr die Themen auszugehen scheinen. In der Tat wird es immer schwerer, noch ein Thema zu finden, über das nicht gesprochen werden dürfte, ein heißes Thema, das nicht schon längst von einer kritischen Presse aufgegriffen worden wäre. Ob es nun die Kirche ist, eine politische Partei, der Kral der Wissenschaften oder die Rüstungsindustrie – der Maulkorb als Mittel der Machterhaltung verliert an Wirksamkeit. Der Personenkreis, der sich den Maulkorb heute noch umhängen läßt, wird in allen Institutionen kleiner. Wer sich heute in einem Club 2 als „Maulkorbträger“ und „Dogmenreiter“ erweist, hat einen schweren Stand, und es wird immer offensichtlicher, welche geistige Amputation jede Art von Tabu darstellt.

Diese Entwicklung ist jenen mutigen Journalisten und Redakteuren zu verdanken, jenen engagierten und beherzten Schriftstellern und Künstlern, die nur zu oft ihre Existenz auf’s Spiel gesetzt haben. Und wenn heute im Club 2 bedauert wird, daß es keine heißen Themen mehr gibt, so zeigt das nur, welch ungeheurer Wandel sich in den letzten 15 Jahren vollzogen hat, und daß der Club 2 seinen Beitrag dazu geleistet hat: Die Zensur greift nicht mehr. Das Tabu ist tot.

Ist es das wirklich? Es wäre zu schön, könnten wir es bei dieser positiven Beurteilung belassen. Allein, eine durch Jahrhunderte eingeübte fundamentalistische Geisteshaltung ist hartnäckiger, als man glauben möchte. Die allergische Reaktion auf den Andersdenkenden, der wir nur zu häufig begegnen, ist ein untrügliches Zeichen dafür. Und wo immer wir den Zusammenbruch fundamentalistisch-autoritärer Systeme als Sieg der Demokratie, der Freiheit und Menschenrechte feiern, gerade dort bricht die fundamentalistische Geisteshaltung in der Form des Nationalismus mit all ihren fatalen Folgen durch.

Einmal noch will ich es uns leicht machen und den Blick nach draußen wenden, zu den anderen, bei denen es stets leichter ist, kritisch zu sein, Fehler zu erkennen und ihre verheerenden Folgen. Glasnost und Perestroika haben wohl eines der rigorosesten fundamentalistischen Systeme zu Fall gebracht: den Sowjetkommunismus. Und während wir dieses Ereignis feiern, brechen zahllose, längst überwunden geglaubte nationale Konflikte in aller Härte aus. Wo liegt wohl der Grund dafür? In wirtschaftlicher Not? Gewiß, aber nur sehr vordergründig. Die könnte genausogut den Entschluß hervorbringen, umso entschlossener gemeinsam in die Hände zu spucken. Nein, der eigentliche Grund liegt wohl tiefer: Die kommunistische Brüderlichkeit war eine aufgezwungene, eine verordnete und nicht das Ergebnis eines Reifungsprozesses. Alte Konflikte wurden wegretuschiert, geleugnet, aber nie aufgearbeitet und überwunden. Ein erzwungener Friede ist ein Scheinfriede und trägt den Keim des nächsten Krieges in sich. Was nur unter dem Zwang einer starken Hand funktioniert, zerfällt in Chaos, Mord und Totschlag, wenn die starke Hand einmal nicht mehr da ist. So ist es leider. Daraus aber den Schluß zu ziehen, es müsse eben für die starke Hand gesorgt werden, ist zwar naheliegend, aber – wie die erste Näherung an ein Problem so oft – genau der falsche Schluß. Die starke Hand verhindert nämlich nicht den Ausbruch von Konflikten, sie schiebt ihn nur auf. Was sie verhindert, ist die Überwindung, die friedliche Beilegung von Konflikten. Der erforderliche Dialog kann im Klima der Tabus nicht stattfinden. Die Konflikte werden konserviert, und wenn es 20, 40 oder 80 Jahre sind. Was nämlich erhalten bleibt, ja gefördert wird, ist genau diese fundamentalistische Geisteshaltung, mit der der Andersgläubige verfolgt wird. Und war es früher der Kritiker des Kommunismus, so ist es jetzt der Kritiker des Nationalismus. Genau das finden wir zur Zeit am Balkan als fatales Erbe des Tito-Jugoslawien: Über vierzig Jahre haben die Wunden alter nationaler Konflikte keine Chance bekommen zu heilen. Eine Wunde, die nicht sein darf, die keine Zuwendung, keine Pflege erhalten darf, kann nicht heilen. Es ist wie eine Ehe in der Krise, die nach außen den Schein der Eintracht wahren muß. Auch sie hat wenig Chancen zu genesen, wenn der Freund, die Familienberatung oder welche Hilfe immer nicht in Anspruch genommen werden darf, weil der Schein aufrechterhalten werden muß, es sei alles in bester Ordnung. Und so konnte es auch in Jugoslawien zu keinem Verstehen kommen und zu keinem Verzeihen, weil das Thema Tabu war. Wer es wagte zu sagen, nicht die Deutschen, sondern der kroatische oder der serbische Nachbar habe seinen Vater umgebracht, wanderte als Nestbeschmutzer und Vaterlandsverräter ins Gefängnis, weil er die Illusion der kommunistischen Brüderlichkeit der Völker gefährdete. Und so kam es wohl auch, wie es kommen mußte, denn Tabus können Probleme zudecken, aber nicht lösen. Sie führen zu einem hartnäckigen Schwelbrand unter dem Teppich, unter den man versucht hat, die Probleme zu kehren. Und je länger die Tabus aufrechterhalten werden, desto verheerender ist das Inferno, wenn sie fallen. Und dieses Inferno, dieser Wahnsinn mit all dem unnötigen Leid und all der fundamentalistischen Intoleranz, die Tabus zur Folge haben, findet in Jugoslawien jetzt statt, jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, und führt mir drastisch vor Augen, wie dringend wir alle zu lernen haben. Und daher ist jetzt Schluß mit der Schonzeit. Wir haben genug über den Zaun geschaut. Was zu sehen war, haben wir gesehen. Jetzt gilt es, bei uns Nachschau zu halten, wie es um unsere Geisteshaltung steht, wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen, mit unseren alten Wunden. Ob sie eine Chance zu heilen bekommen, oder ob auch wir ein Tabu darüberbreiten und heile Welt spielen.

 

Unsere Wunde: Der Nationalsozialismus




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Auch wir haben unsere Wunden, unsere großen und unsere kleinen. Die größte ist wohl unsere nationalsozialistische Vergangenheit. Unser Umgang mit dieser Vergangenheit spielt sich auf verschiedensten Ebenen ab. Auf der außenpolitischen, wo es um das Ansehen Österreichs in der Welt geht, auf der innenpolitischen, wo es darum geht, die Wähler bei Laune zu halten, auf der Ebene von Theater, Kleinkunst bis hin zur Ebene der Familie und nicht zuletzt des Wirtshaustisches. All diese Ebenen bilden eine komplizierte Verflechtung, auf die gesetzliche Bestimmungen nur einen beschränkten Einfluß haben. Gesetze stehen in einer Wechselbeziehung zur gesellschaftlichen Realität: gesellschafliche Realität formt Gesetze, Gesetze formen gesellschaftliche Realität. Wenn ich jetzt über das Verbotsgesetz spreche, das Wiederbetätigungsgesetz, wie es auch genannt wird, so tue ich dies einerseits, weil es die geistige Haltung beleuchtet, aus der es entstanden ist, andererseits, weil es nicht ohne Auswirkungen auf die geistige Haltung in unserer österreichischen Gesellschaft ist. Mir geht es nicht um die Kritik an diesem Gesetz oder seine Änderung. Ich ziehe es heran, weil an ihm die geistige Haltung, die ihm zugrunde liegt, wie ich meine, deutlich zu erkennen ist. Und um die geht es mir. Um die Frage: Wie steht es um unsere Identität? Neigen etwa auch wir in der Frage unserer Vergangenheit zum Tabu, zum Dogma, jenen Mitteln autoritärer Systeme? Erschweren vielleicht auch wir auf diese Weise die Entwicklung von Verständnis für das, was gewesen ist, als Voraussetzung für ein Verzeihen, für einen Friedensschluß? Und wenn es nur der Friedensschluß mit längst verstorbenen Eltern ist. Behindern vielleicht auch wir den Dialog mit Menschen, die heute noch dem Gedankengut des Nationalsozialismus anhängen? Tragen wir vielleicht gerade dadurch zu einer Verhärtung ihrer Ansichten bei, daß wir nicht willens sind, auch einmal ihren Standpunkt einzunehmen, als Voraussetzung für ein Verstehen, wie es das Gleichnis vom Wassertropfen sagt, der in der Sonne glitzert? Hüten wir uns vielleicht sogar vor einem Verstehen, weil wir Verstehen und Gutheißen verwechseln? Schaffen wir vielleicht ein Klima, in dem viele nicht wagen, ihre Ansichten auszusprechen, weil sie schon als Neonazi gebranntmarkt werden, wenn sie finden, daß die Abschaffung der Kurrentschrift durch Hitler eine gute Sache war? Kurz: Konservieren vielleicht auch wir durch Dogmen und Tabus jene fundamentalistische Geisteshaltung, die die Probleme solange unter den Teppich kehrt, bis der Schwelbrand zur Explosion führt?

Diesen Fragen will ich anhand des Verbotsgesetzes nachgehen. Sie sind mein Thema, nicht das Gesetz. Das Gesetz ist ein eher unbedeutendes Faktum aus der jüngeren österreichischen Geschichte. Die Fragen hingegen, denen ich nachgehen will, sind von höchst aktueller Bedeutung, weit über Österreichs Grenzen hinaus: Wie wird man in Deutschland mit den ehemaligen Funktionären der DDR umgehen? Wie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion mit der kommunistischen Vergangenheit? Wie in Ungarn, Polen, der CSFR, Slowenien und Kroatien? Wird die fundamentalistische Geisteshaltung des Kommunismus durch eine ebenso fundamentalistische der Marktwirtschaft abgelöst? Wird der nationale Fundamentalismus seine Blüten treiben? Wie wird man mit dem Rechtsextremismus in Frankreich, Großbritannien oder den USA umgehen? Wie wird man in den reichen Industrieländern mit dem Wanderungsdruck aus den Ländern der Dritten Welt umgehen, nachdem man den Menschen dort die Lebensgrundlage entzogen hat? Auch das ist Umgang mit eigener Vergangenheit. Werden wir die Mitverantwortung für ihre Verarmung auf uns nehmen und ernsthaft an einer Verbesserung ihrer Lage mitwirken, oder werden wir mit der Ausplünderung fortfahren, um die eigene Lebensqualität um ein paar weitere Raffinessen zu bereichern? Werden wir versuchen, den Standpunkt der Indios zu verstehen, uns öffnen, um zu lernen, oder werden wir zur eigenen Rechtfertigung das alte rassistische Klischee aus der Lade ziehen, daß es sich eben um Menschen handelt, die ein besseres Los nicht verdienen? Das ist die Dimension, um die es mir geht. Und noch etwas: Es geht mir nicht um die Moral. Wir müssen erkennen, daß das Überlebensfragen sind. Nicht nur für die Indios, auch für uns! Und daher jetzt zurück zum Verbotsgesetz – es hängt eben alles zusammen.

Ich will diesem Gesetz, das alle unter Strafandrohung stellt, die am Nationalsozialismus auch gute Seiten zu finden glauben und diese ihre Meinung öffentlich kundtun, die positive Absicht nicht rundweg absprechen. Im Gegenteil. Seine Entstehung wäre leicht aus der historischen Situation heraus zu erklären. Ein Gesetz im Verfassungsrang, das nationalsozialistische Wieder- oder Weiterbetätigung in diesem Lande verhindern sollte, war eine der Bedingungen dafür, daß Österreich durch den Staatsvertrag mit den Siegermächten des 2. Weltkrieges seine Souveränität erhalten konnte. Diese Erklärung allein greift aber ebenso zu kurz wie die Erklärung durch das außenpolitische Signal, das es setzen sollte: Aller Welt sollte demonstriert werden: Nationalsozialismus? – bei uns doch nicht! Wir waren ja die ersten Opfer, und eventuelle Restbestände haben wir per Gesetz abgeschafft. Auch das mag durchaus ein Motiv gewesen sein, wenn auch nicht ein sehr edles. Ich glaube, man wird der Realität nicht gerecht, wenn man die tiefe Sorge, es könne der Nationalsozialismus mit all seiner verbrecherischen Menschenverachtung wiedererwachen, nicht sieht und die ehrliche Absicht, diese Gefahr zu bannen. Nach allem, was ich über die Lebensgeschichten der Männer weiß, in deren Händen damals das Geschick unseres Landes lag, hege ich nicht den geringsten Zweifel an ihrer Sorge und der lauteren Absicht. Und dennoch halte ich das Gesetz für ein zutiefst undemokratisches: Wie will man sich von dem autoritären Hitler-Regime distanzieren, indem man sich genau der autoritären Mittel bedient und durch ein Gesetz ausgerechnet die demokratischen Grundfreiheiten der Meinung und der Rede beschneidet? Außerdem – und das scheint mir noch entscheidender – was für eine Einstellung zur Demokratie spricht aus diesem Gesetz? Was ist das für ein Vertrauen in die Demokratie, wenn man nicht an die reinigende Kraft einer öffentlichen und offenen Auseinandersetzung glauben kann, wenn man nicht daran glauben will, daß eine Demokratie auch damit leben kann, daß da ein paar Menschen herumlaufen, die allen Ernstes verkünden, Konzentrationslager habe es nie gegeben. Demokratische Gesinnung läßt sich nicht verordnen, und schon gar nicht durch ein zutiefst undemokratisches Gesetz, das ein Tabu über die Vergangenheit breitet und damit die Aufarbeitung unmöglich macht. Und hier ist der Punkt, wo ich das Gesetz schlichtweg für fatal halte: Es macht eine offene und differenzierte Behandlung des Themas unmöglich, ein Nachempfinden, ein Verstehen. Denn wie, frage ich Dich, soll man den Nationalsozialismus je verstehen, wenn nur die Frage zulässig ist „Was war schlecht daran, kriminell und menschenverachtend?“, und wenn die Frage „Hat er auch seine guten Seiten gehabt?“ nicht gestellt werden darf?

Nehmen wir das Gleichnis vom Wassertropfen ernst und versuchen wir einmal den anderen Standpunkt einzunehmen, den Standpunkt des überzeugten Nationalsozialisten. Das fällt ja umso schwerer, je ferner und fremder uns dieser Standpunkt ist. Aber umso wichtiger ist dieser Schritt, wenn Verständnis entstehen soll. Kannst Du Dir vorstellen, wie es einem Menschen geht, der den ganzen Idealismus, dessen seine Jugend fähig war, in den Nationalsozialismus investiert hat, und der heute kriminalisiert wird, nur weil er es nicht schafft, sich einzugestehen, daß sein Idealismus schändlich für eine böse Sache mißbraucht wurde? Wie geht es wohl dem Menschen, der mit dieser schmerzenden Wunde durchs Leben zu gehen verurteilt ist, der seinen Schmerz nicht hinausschreien darf? Wem soll er sich anvertrauen? Wem sein Herz ausschütten? Dem Pfarrer vielleicht im Beichtstuhl? Nein! Er fühlt sich ja nicht schuldig. Er hat ja nur seine Pflicht getan, wie es Ehrensache war, und es war bei Gott nicht immer leicht. Da sucht er sich seine Gesinnungsgenossen eben im privaten Rahmen, am Biertisch und im Kameradschaftsbund, und dort entsteht dann diese Subkultur, in der die grausamste und entbehrungsreichste Zeit seines Lebens nostalgisch verklärt wird als die einzige Zeit, die seinem Leben einen Sinn gegeben hat, als die einzige Zeit, in der die Opfer, die er gebracht hat, Anerkennung fanden, die Opfer dargebracht aus Idealismus. Einem fehlgeleiteten Idealismus freilich, einem kriminell mißbrauchten. Aber das zu erkennen, fällt eben ungeheuer schwer. Versuchen wir doch, uns in diesen Menschen hineinzudenken, in das, was er erlebt hat. Versuchen wir seine Situation zu erkennen, sein Denken und Fühlen nachzuempfinden: Er wird beschimpft und verachtet von der Generation seiner eigenen Kinder, dieser undankbaren Kinder, die nicht wissen, was das ist, Idealismus und Opferbereitschaft, und die nie Not und Verzweiflung kennengelernt haben. Was weiß denn diese Generation von den Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit, die er auf sich genommen hat, um seinen Kindern eine bessere Zukunft zu schaffen. Und nun wird ihm noch das Maul verboten. Per Gesetz sogar. Und er wird dafür, daß sein Idealismus mißbraucht wurde, noch verantwortlich gemacht und an den Pranger gestellt, damit dieser Staat sich reinwaschen kann. So sieht er das nämlich. Und mit ihm viele tausend Leidensgenossen. In dieser Atmosphäre der Tabuisierung kann es zu der vielbeschworenen Vergangenheitsbewältigung nicht kommen, nicht zu einem Verständnis dessen, was sich abgespielt hat, wie es dazu kommen konnte, ja mußte, und zu einem Verständnis der Generationen füreinander. Vor allem aber nimmt man der Wahrheit die Chance, angenommen zu werden. Der Wahrheit kann nichts Schlimmeres passieren, als daß sie zur offiziellen Lehrmeinung gemacht wird, an der nicht gerüttelt werden darf. Das nährt die Zweifel und den Verdacht der Manipulation. Und das Tagebuch der Anne Frank oder die Dokumentarfilme von den Greueltaten in den Konzentrationslagern werden in den Köpfen dieser Menschen zum Beweis für die Macht jüdischer Propaganda. Die Tragik ist die: Die Kinder intoleranter, bornierter und fanatischer Nationalsozialisten gehen zu ihren Eltern in Opposition und werden zu ebenso intoleranten, bornierten und fanatischen Anti-Nazis, und die Enkelkinder verbünden sich wieder mit den Großeltern. Was erhalten bleibt, ist die fundamentalistische Geisteshaltung, mit der das jeweils Andersartige verfolgt wird. Ich sehe, Du schüttelst den Kopf und sagst, nein, ganz so ist es ja nun auch nicht. Da hast Du schon recht. Das Leben geht gewundene Pfade und ist in seiner Komplexität so einfach nicht zu fassen. Und doch: Seit ich auf dieses Phänomen gestoßen bin, begegnet es mir immer wieder: Religionen, Weltanschauungen werden bekämpft, weil sie Übles hervorbringen. Was bestehen bleibt, ist der Urgrund des Übels, die fundamentalistische Geisteshaltung. Von ihr sollten wir uns verabschieden, damit sie eine biophile Entwicklung nicht hemmt.

Ich sage noch einmal: Mir ist klar, daß das Verbotsgesetz eine historische Notwendigkeit war. Ich zweifle auch nicht an der positiven Absicht, die ihm zugrunde liegt. Es ist auch durchaus möglich, daß durch seine abschreckende Wirkung einer Gefahr des Wiederbelebens des Nationalsozialismus wirksam begegnet wurde. Ich kann nicht abschätzen, wie ernst eine solche Gefahr war, aber zweifellos hat sie bestanden. Mag also sein, daß das Gesetz in der Nachkriegszeit eine angemessene Reaktion auf den Nationalsozialismus war. Heute stelle ich allerdings die Frage, ob es nicht letztlich kontraproduktiv war, ob der Geist von Tabu und Dogma, der aus ihm spricht, nicht mitverantwortlich ist für diesen Schwelbrand unter dem Teppich, diese realitätsferne Polarisierung von Gut und Böse. Und so kommen wir nicht ins reine mit unserer Vergangenheit. So wird es wohl kaum gelingen, daß wir aus der Geschichte unsere Lektion lernen. Schon laufen wieder die alten Mechanismen. Fremdenangst, geschürt von Politikern mit demagogischem Geschick, wird zu Fremdenfeindlichkeit und Fremdenhaß. Und Haß gebiert Gewalt. Was das bedeutet, erleben wir zur Zeit im ehemaligen Jugoslawien.

Nein, so geht’s wohl nicht. Ich kenne kein Ding, kein System, kein Regime, das nur gut oder nur schlecht wäre. Und auch das menschenverachtendste Regime können wir nie verstehen, wenn wir es in Bausch und Bogen verteufeln. Verstehen der eigenen Geschichte in all ihrer Tragik ist aber Voraussetzung um aus ihr zu lernen. Und ich sage Dir: Weniger Sorgen macht mir der Politiker, der es wagt, irgendeinen Aspekt des Hitler-Regimes positiv zu bewerten, als die ganze Meute von Politikern, die ihm die Wähler in Scharen zutreiben, indem sie einen Skandal daraus machen und nach einer Verschärfung des Wiederbetätigungsgesetzes rufen. Sie gefährden die Entwicklung zu jener offenen Geisteshaltung, die den Andersdenkenden zu verstehen sucht, jener Geisteshaltung, die in der Lage wäre, die Herausforderung anzunehmen und mit der traurigen Tradition von Gewalt und Unterdrückung zu brechen.

Nach dieser Bilanz überlasse ich es Dir zu beurteilen, wie es um die Geisteshaltung in anderen Bereichen steht, etwa der Wissenschaft, des Militärs, der Naturwissenschaften. So erscheint mir z. B. der Hang kirchlicher Obrigkeiten zu Dogma und Tabu ungebrochen. Indessen weht ihnen von der Basis ein erfreulich frischer Wind entgegen. Wir leben in einer Zeit, in der erstarrte Strukturen reihenweise aufbrechen, in einer Zeit der Bewegung. Aber beurteile selbst, wieweit etwa die Kirche Züge fundamentalistischer Geisteshaltung hat oder ob sie auch anderen Religionen zugesteht, zum Heil zu führen, seligmachend zu sein. Männerbündisch-hierarchisch strukturierte Organisationen sollten allemal unser Mißtrauen erregen. Ich lasse es damit bewenden, obwohl es in den Ländern der westlichen Welt noch viele Bereiche gibt, in denen Wesenszüge fundamentalistischer Geisteshaltung zu finden sind. Wenn Du sie einmal als zutiefst nekrophil erkannt hast, und Tabu und Dogma als Machtmittel aller autoritären Systeme, und wenn Du weißt, wie sehr sie einem friedlichen Zusammenleben auf diesem, unserem Globus im Wege stehen, dann wirst Du sie aufspüren, hinter welcher Tarnung sie sich auch verstecken mögen und welche Argumente zu ihrer Rechtfertigung auch angeführt werden mögen. Du wirst sie finden, eines nach dem anderen. Du wirst auf sie stoßen, ob Du willst oder nicht. Und Du wirst beginnen, offener zu sprechen, auch Überzeugungen auszusprechen, die Du bisher lieber für Dich behalten hast, aus Angst vor Widerspruch, aus Scheu, dem anderen zu nahe zu treten. Und je offener Du sprichst, umso mehr Zustimmung wirst Du bekommen. Gerade wenn Du die selbst auferlegten Tabus ablegst, wirst Du entdecken, wie wohltuend Deine geistige Freiheit nicht nur für Dich selbst, sondern auch für Deine Gesprächspartner ist, und wie dankbar sie aufgenommen wird. Das ist meine Erfahrung und das wird auch die Deine sein.

 

Sind wir überhaupt lernfähig?




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Darin liegt meine Zuversicht: Offene, geistig freie Menschen, die sich keiner Zensur unterwerfen, sich nicht selbst belügen, die weder gebannt auf drohendes Unheil starren, noch davor die Augen verschließen, Menschen, die nicht für jedes Ungemach einen Schuldigen brauchen, sondern ihr Schicksal mit Phantasie und Zuversicht in die Hand nehmen, kurz, biophile Menschen sind überall gern gesehen und haben allemal mehr Überzeugungskraft als noch so beredte Hüter von Tabus und Dogmen. Und wenn Dir das zu blauäugig und naiv klingt, gestehe ich Dir ganz offen, daß ich selbst manchmal nicht weiß, woher ich meine Zuversicht nehme. Sicher nicht vom Wegschauen, wohl auch nicht von einem Realitätsverlust, denn die nüchterne Analyse meiner Beobachtungen bietet wenig Anlaß zu Optimismus. Realitätsverlust sehe ich eher auf Seite derer, die glauben, mit Tabus und Dogmen arbeiten zu müssen. Sie übersehen, daß die Realität sich wenig um von Menschen aufgestellte Normen kümmert. Nein, wenn auch weltweit eine Unzahl höchst biophiler und erfolgreicher Initiativen zu verzeichnen ist, – ich komme noch darauf zu sprechen –, so bietet eine nüchterne Bilanz, die nach dem herkömmlichen Denkschema von Logik und Kausalität die Landkarte der Interessen und der Machtmittel wirtschaftlicher und militärischer Natur in Betracht zieht und die davon ausgeht, daß sich menschliches Fehlverhalten schicksalhaft in demselben Ausmaß, wie wir es aus der Geschichte kennen, wiederholen muß – eine solche Bilanz bietet freilich wenig Grund zur Hoffnung. Und wer in diesem Denkschema verhaftet bleibt, hat auch allen Grund, mich für einen hoffnungslosen Schwärmer und Illusionisten zu halten. Denn meine Zuversicht ist mein Glaube an Wunder, an kleine Wunder allerdings, bescheidene, die nichts Spektakuläres an sich haben, aber Wunder, die Realität sind, die ich tagtäglich erlebe und die jeder erleben kann, wenn er die Augen öffnet und zu sehen beginnt. Es hat das wohl etwas mit der selektiven Wahrnehmung zu tun, mit dieser zutiefst menschlichen Eigenschaft, eben nur das wahrzunehmen, woran man glaubt.


Da war der Streit unter den Skiexperten ausgebrochen, ob die Weltklasseläufer im Riesenslalom den Stock einsetzen oder nicht. Also hat man sich Videoaufnahmen angesehen, um die Frage zu klären. Aber siehe da, es änderte sich nichts: Die einen nahmen die Aufnahmen als Beweis dafür, daß kein Stockeinsatz gemacht wird, während die anderen aufgebracht riefen: „Ja seht ihr denn nicht? Da, und da wieder und hier!“ Erst als ein Vorführgerät herbeigeschafft war, das das Abspielen in Zeitlupe, Standbilder und langsamen Vor- und Rücklauf gestattete, konnte der Beweis erbracht werden: Über 90% der Läufer setzten den Stock ein. Es war aber nicht nur die Erkenntnis, wie sehr die selektive Wahrnehmung vom Glauben, von der Überzeugung gesteuert wird, auch eine zweite Erkenntnis erwuchs mir aus dieser Geschichte: Glaube und Überzeugung schaffen auch Realität. Ist ein Trainer davon überzeugt, daß ein Stockeinsatz im Riesenslalom fehl am Platze ist, so werden seine Läufer beginnen, ohne Stockeinsatz zu fahren. Das wiederum wird als Beweis genommen, daß Riesenslalom ohne Stockeinsatz gefahren wird, womit sich diese Realität endgültig kurzschließt. Welche Läufer letztlich auf dem Siegerpodest stehen, ist freilich eine andere Frage.

Und da es keinen Videofilm gibt, der den Nachweis liefern könnte, welches der beiden Prinzipien das stärkere, das richtige wäre, das nekrophile Habens- und Konkurrenzprinzip oder das biophile Seins- und Beziehungsprinzip, bleibt uns wohl nur übrig, an eines der beiden zu glauben und es dadurch zu stärken. Auf dem „Siegerpodest“ – das sollte uns allerdings klar sein – kann nur das Seins-Prinzip stehen, denn gewinnt das Habens-Prinzip, so bedeutet das in letzter Konsequenz auch die Vernichtung des Siegerpodestes.


Der Club of Rome gelangt zu dem Schluß: „Wir leben im Anfangsstadium der ersten globalen Revolution, auf einem kleinen Planeten, den zu zerstören wir offenbar wild entschlossen sind“. Die wilde Entschlossenheit, den Planeten zu zerstören, ist kaum zu leugnen. Die offene Frage ist: Welcher Natur ist diese erste globale Revolution, in deren Anfangsstadium wir leben? Ist es eine Revolution, die sich gegen die Zerstörung des Planeten richtet? Und vor allem: Ist es eine friedliche, gewaltfreie Revolution, wie wir sie etwa in der DDR und in der CSSR erlebt haben? Das nämlich ist die Botschaft dieser Revolutionen, daß sie zum Unterschied von allen Revolutionen, die wir aus der älteren Geschichte kennen, friedlich und gewaltfrei und unter Wahrung der Menschenwürde, ja geradezu als Lehrbeispiel dessen, was die Menschenwürde ausmacht, über die Bühne gegangen sind. Könnte die erste globale Revolution eine solche werden? Ich wage diese Frage nicht zu beantworten. Aber ich bin zuversichtlich, denn ich glaube eben an Wunder. Und die Revolutionen in Ostdeutschland und der Tschechoslowakei waren solche Wunder! Sie haben nämlich eines gezeigt: Der Mensch ist nicht dazu verdammt, die Fehler seiner Geschichte bis zum bitteren Ende zu wiederholen. Er ist lernfähig!

Ich habe von Mechanismen gesprochen, der Tatsache, daß in bestimmten Situationen eine bestimmte Reaktion eben besonders wahrscheinlich ist. Ein solcher Mechanismus ist die hohe Neigung zu der Annahme, daß menschliches Verhalten vorwiegend genetisch bedingt sei, daher unveränderlich, und daß dagegen Verhaltensänderungen aufgrund von Lernprozessen eine vernachlässigbare Größe darstellen. Kurz, die Überzeugung „Der Mensch ist und bleibt, wie er ist, und das Lernen kann man vergessen – es wird ihn nicht ändern“ ist unglaublich weit verbreitet und schafft sich auch ihre eigene Realität, die sich selbst bestätigt. Der Hauptgrund für das Nicht-Stattfinden von Lernen, für die verbreitete Lernverweigerung liegt aber, so sehe ich es, nicht in der genetischen Fixierung der Verhaltensweisen, sondern in der Überzeugung, daß Verhaltensänderungen nicht lernbar seien. Wenn ich mir die Frage stelle, warum die Neigung zu dieser Ansicht so groß ist, so drängt sich eine Antwort auf: Mit dieser Überzeugung kann man sich trefflich aus der Verantwortung stehlen. Wer sollte mich verantwortlich machen für die Gene, die mir die Vorfahren verpaßt haben?! Wer sollte mich verantwortlich machen für ein Verhalten, das durch sie bestimmt ist?! Wozu sollte ich mich der Mühe sozialen Lernens unterziehen, wenn’s ja doch nichts bringt?! Das ist eine sehr bequeme Ansicht, und bequeme Ansichten haben noch immer großen Zulauf gefunden. Daß eine solche Haltung vielen Menschen das Wahrnehmen biophiler Lebensziele unmöglich macht, sie am Erreichen eines erfüllten Lebens hindert, ist natürlich eine andere, für sie schwer zugängliche Wahrheit. Und daher halte ich es mit den Wundern, lasse mir das Wunder der Lernfähigkeit unserer Spezies nicht ausreden und glaube an die Möglichkeit, daß, wie im kleinen in Ostdeutschland und der Tschechoslowakei auch im großen diese erste globale Revolution, in deren Anfangsstadium wir leben, eine friedliche und gewaltfreie werden kann.

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich auf diesen alten Streit um die Lernfähigkeit des Menschen eingegangen bin. Die Überbetonung der Erbanlage gegenüber dem Lernen aufgrund von Umwelteinflüssen war stets und ist heute noch Basis jedes Rassismus und Nationalismus. Wieviel Blut und Leid auf dieses Konto gehen, hören wir täglich in den Nachrichten.

 

Rassismus




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So wie es offensichtliche Rassenmerkmale gibt wie Hautfarbe, Wuchs, Schädelform und dergleichen mehr, so gibt es wohl auch Unterschiede in der Mentalität und in den Begabungen. Was nun die körperlichen Merkmale anlangt, sind diese zweifellos angeboren. Der Mensch ist kein Chamäleon, das sich seinen Mitmenschen in Hautfarbe und Körperbau anpassen könnte. Daß andererseits seine Mentalität und seine Begabungen in hohem Maße von den Gewohnheiten, Bräuchen und Werthaltungen der Gemeinschaft, in der er herangewachsen ist, geformt sind, steht für mich auch außer Zweifel. Es kommt eben sehr darauf an, welche Anlagen gefördert wurden und welche unterdrückt. Daher ist es wohl schwer möglich, im Bereich von Mentalität und Fähigkeiten deutliche Rassenmerkmale festzumachen, da man nicht sagen kann, wieviel von einem bestimmten Erscheinungsbild nun auf Erbanlage und wieviel auf kulturelle Prägung zurückzuführen ist. Über diese Frage zu streiten, halte ich in zweifacher Hinsicht für sinnlos: Einmal, weil sie eben nicht zu klären ist. Und dann, weil nichts darauf hindeutet, daß uns eine Klärung ein besseres Zusammenleben bescheren könnte. Aber wie das schon so ist, entzünden sich die fatalsten Auseinandersetzungen immer wieder an völlig unsinnigen Fragen. Es ist wie die Suche in einem dunklen Zimmer nach einer schwarzen Katze, die gar nicht drinnen ist. Das Erstaunliche ist nur, daß viele Menschen glauben, sie trotzdem genau zu kennen. In diesem Punkt steht ein bestimmter Typ von Anti-Rassist dem Rassisten in nichts nach. Der eine glaubt zu wissen, daß die Mentalitäts- und Begabungsunterschiede eben Folge der Erbanlage seien und daß kulturelle Prägung, soferne sie überhaupt von Belang sei, ja auf jene Kultur zurückzuführen sei, die eben dem „Erbgut dieser Rasse“ entspreche. Die anderen argumentieren mit der Behauptung, in ihren Anlagen seien die Menschen alle gleich, nur hätten sie eben unterschiedliche Entwicklungschancen gehabt.

Beide sind mir gleichermaßen schwer zu ertragen. Wo immer Rassismus auftritt, dient er zur Rechtfertigung von Unterdrückung und Gewalt gegen die andere Rasse, die als minderwertig hingestellt wird. Es ist das der Stoff, aus dem jene Überheblichkeit und Borniertheit gemacht sind, jene Verhärtung der Herzen und Feindseligkeit, die zu so viel Unheil und Blutvergießen geführt haben und wohl auch noch führen werden. Aber gerade weil ich so ein überzeugter Gegner jedes Rassismus bin, sind für mich Menschen, die als Anti-Rassisten auf diese Argumentationslinie einsteigen und meinen, mit der Behauptung, die Menschen seinen von Geburt her alle gleich, den Rassismus bekämpfen zu können, ebenso schwer zu ertragen. Das ist nur Wasser auf die Mühlen des Rassismus.

In Wahrheit geht es um etwas ganz anderes: Ist es zulässig, über eine Wertigkeit der Rassenmerkmale zu befinden, eine Hierarchie aufzustellen von besseren und schlechteren Eigenschaften? Und wenn ich zulässig sage, meine ich das gar nicht so sehr vom Standpunkt der Moral aus: Ist das ethisch, moralisch zulässig? Ich meine damit: Ist es überhaupt möglich, von besseren und schlechteren Rassenmerkmalen zu sprechen, wenn man sich nicht auf den engen Blickwinkel beschränkt, der eben dieser bornierten Überheblichkeit entspricht, die nur die eigenen Werthaltungen sieht. Einfacher ausgedrückt: Woher nimmt der afrikanische Farmarbeiter, der, wenn er satt ist, einfach nicht mehr zur Arbeit erscheint, die Überheblichkeit, die Strebsamkeit des weißen Mannes als Raffgier und negatives Rassenmerkmal hinzustellen? Wahrscheinlich tut er das gar nicht, sondern wundert sich nur über den weißen Mann, für den Pünktlichkeit und Strebsamkeit offensichtlich wichtiger sind als Geselligkeit, Jagd, Spiel oder Beschaulichkeit. Vielleicht aber hat er die Überheblichkeit bereits gelernt, den Weißen als minderwertig zu verachten.

Ich wage es nicht, zu befinden, welche Eigenschaft höher einzuschätzen wäre, die Strebsamkeit oder die Fähigkeit, sich im Leben mit einem Minimum zu begnügen. – Ich sehe, Du zweifelst an meiner Aufrichtigkeit, ist doch das ganze Buch ein Plädoyer für einen bescheidenen Lebensstil. Und dann hat dieser Mensch die Stirn zu behaupten, er wage es nicht zu befinden, ob Strebsamkeit oder Bescheidenheit höher einzuschätzen sei! So ist es. Nicht nur, daß ich es nicht wage, ich halte solche Bewertungen für unzulässig und unsinnig. Bei genauerem Hinsehen halte ich sie vor allem für fatal, weil sie unser Denken vergiften. Wenn ich mich für einen bescheidenen Lebensstil einsetze, dann deshalb, weil ich mich mit diesem Buch an die sogenannte Erste Welt richte, an die reichen Industrieländer, und da an die Menschen, die dem Habens-Prinzip verfallen sind. Sie will ich für einen bescheideneren Lebensstil gewinnen. Ich habe nicht den Zynismus, den Armen dieser Welt mehr Bescheidenheit zu empfehlen. Es ist immer eine Frage des Maßes. Wo wäre ein Mehr von einer Eigenschaft segensreich und wo ein Weniger?

Ich sehe ein, daß der afrikanische Farmer mit seinem unzuverlässigen Arbeiter keine Freude hat. Es ist eben naheliegend, Wert und Unwert aus der eigenen Interessenslage heraus zu sehen. So ist die Biene zu einem Nützling geworden, der Kartoffelkäfer aber mußte durch schmerzliche Erfahrung mit DDT zur Kenntnis nehmen, daß er als Schädling eingestuft wurde. Welche Rolle ihm in einer Umgebung zukommt, die nicht durch Monokulturen geprägt ist, welche Beiträge er da zu leisten vermag, diese Frage ist allerdings eine andere. Und so wäre wohl auch die Frage zu stellen, welche Beiträge die verschiedenen Völker dieser Erde gerade durch ihre Eigenarten zu einem gedeihlichen Zusammenleben zu leisten vermögen. Der eingeengte Blickwinkel des Rassismus macht es aber unmöglich, in dieser Frage wirklich offen zu sein und den Reichtum zu nutzen, jenes biophile Potential, das wir zur Lösung unserer gemeinsamen Probleme so dringend brauchen. Rassismus zerstört die Lernbereitschaft. Und er arbeitet mit Klischees, mit Verallgemeinerungen und bereitet damit den Boden für Feindbilder.

Kürzlich habe ich mit einem Musiker gesprochen, der Schwierigkeiten damit hatte, daß ihn seine Fans von Konzert zu Konzert verfolgen. „Ich bin doch ein ganz normaler Mensch und kein Heiliger“. Darauf sage ich ihm: „Du bist ein ganz normaler Mensch und ein Heiliger, weil jeder normale Mensch ist irgendwo ein Heiliger, so wie er auch irgendwo ein Schurke ist“. Das ist man eben alles als ganz normaler Mensch. Abnormal wäre der Nur-Schurke oder der Nur-Heilige. Die sind mir beide ungeheuer. Und so, wie es mit dem einzelnen Menschen ist, so ist es auch mit jeder Gesellschaft. Es gibt keine nur edle und keine nur böse Gesellschaft. Es gibt in jeder Gesellschaft anständige und unanständige Menschen. Oder genauer gesagt Menschen, bei denen sich die Anständigkeit oder die Unanständigkeit stärker herausgebildet hat. Und so gesehen gibt es keine edle und keine minderwertige Gesellschaft oder Rasse oder Schicksals-, Glaubens- oder Gesinnungsgemeinschaft. Und wenn ich davon ausgehe, daß alle rechtmäßig wegen Gewaltverbrechen verurteilten Gefängnis- insassen auch schlechte Menschen sind, liege ich damit wahrscheinlich genauso schief, wie wenn ich glaube, daß alle KZ-Opfer gute Menschen waren. Ich bringe dieses Beispiel, obwohl ich dabei eine enorme Hemmung in mir überwinden muß. Ich habe gar nicht gewußt, daß mir rückhaltlose Offenheit so schwer fallen kann. Aber ich habe mir vorgenommen, mir nicht die Bequemlichkeit von Tabus zu gestatten. Und wenn ich heute als Mittfünfziger noch in tiefem Weltschmerz weinen kann, wie ich es seit meiner Kindheit verlernt hatte, so angesichts der unheilbaren Verletzungen, von denen die Überlebenden der Konzentrationslager und die Angehörigen der Opfer gezeichnet sind, und angesichts der Tragik, mit der diese Verletzungen über Generationen weiterwirken. Es sind nur kurze Augenblicke, in denen mich der Weltschmerz überkommt. Sie sind mir heilig. Es sind bei allem Schmerz Momente des inneren Friedens, einer wundersamen Genesung aus schwerer Krankheit. Da ist mir plötzlich der Täter genauso nah wie das Opfer. Das Opfer in seinem Leid und der Täter in seiner Verfehlung, in der Tragik eines verfehlten Lebens und der doppelten Tragik, weil er das nicht erkennt. Der Gegensatz von Täter und Opfer löst sich in unerklärlicher Weise auf, und damit, das spüre ich ganz deutlich, die Krankheit in mir, die Krankheit, in den Schablonen von Gut und Böse zu empfinden. Die Tragik des Opfers besteht darin, daß ihm diese Genesung mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenso vorenthalten bleibt, wie dem Täter die Einsicht in seine Verfehlung. Mir ist bewußt, wie schwer erträglich es für die Opfer ist, wenn ich hier Bereiche anspreche, in denen sich der Schuldbegriff in Bedeutungslosigkeit auflöst, und wenn ich von der Tragik spreche, mit der Opfer wie Täter auf ihre Rollen fixiert zu sein scheinen, so daß die Gewalt zu keinem Ende finden kann. Nichts liegt mir ferner, als hier noch eine Verletzung hinzuzufügen. Wenn ich dennoch darüber spreche, so deshalb, weil ich mich gegen jede Verallgemeinerung stelle.

Es geht wohl nicht nur mir so, daß ich zu manchen Gruppen besondere Sympathien entwickelt habe und anderen ablehnend gegenüberstehe. Darin aber liegt bereits der Keim für das Feindbilddenken, wenn es mir nicht gelingt, in allen Gruppen den Menschen zu finden, mit seinen liebenswerten und auch seinen wenig erfreulichen Eigenschaften. Es gibt Umstände, die dazu beitragen, die positiven Anlagen im Menschen, seine biophile Seite zu fördern, und Umstände, die ihn verleiten, seine nekrophile Seite hervorzukehren. Und wenn es auch kein hundertprozentiges Erfolgsrezept geben kann – zum Glück gibt es keines, das hieße ja auch, daß wir hundertprozentig manipulierbar wären – , so können wir doch an den Umständen arbeiten. Wir können die Rahmenbedingungen so gestalten, daß die Entwicklung der biophilen Seite im Menschen mehr Chancen bekommt. Was wir dazu beitragen können, ist sehr wenig und doch zugleich alles, was in dieser Sache überhaupt geschehen kann: Uns auf die Suche nach der biophilen Seite in uns selbst machen. Dann entstehen allmählich auch in unserer Umgebung die Rahmenbedingungen, in denen die Entfaltung der biophilen Seite mehr Chancen bekommt.

 

Der ganz normale Wahnsinn




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Manchmal frage ich mich: Wieviel von all den Sonderlichkeiten, die unsere Erste-Welt-Gesellschaft hervorgebracht hat, haben wir uns bereits soweit zueigen gemacht, daß uns ihre skurrile Perversion überhaupt nicht in den Sinn kommt und wir sie als ganz normal empfinden? Und obwohl ich tagtäglich darauf stoße – so geht es einem eben, wenn man einer Sache auf der Spur ist – habe ich wirklich keine Ahnung, in wie vielen Bereichen auch ich die Perversion ganz selbstverständlich mitmache, weil ich sie nicht erkenne, ja als ganz normal empfinde. Und dann sind da diese Zwischenbereiche, wo wir den Wahnsinn zwar erkennen, uns der Faszination aber doch nicht entziehen können. So bin ich zwar – obwohl ich selbst Sportlehrer bin oder gerade deswegen – seit Jahren zum Hochleistungssport auf kritische Distanz gegangen, ertappe mich aber nichts desto weniger immer wieder dabei, wie ich fasziniert in den Fernsehapparat starre, wenn um olympische Medaillen gekämpft wird, oder wenn ein Formel I Rennen stattfindet. Ich bin eben selbst ein Teil dieses ganz normalen Wahnsinns! Und so zittere auch ich für den österreichischen Athleten, bekomme Herzklopfen und feuchte Handflächen, als hinge meine Ehre daran, ja als hätte das Ganze auch nur irgendeine Bedeutung, außer daß damit eben Geldflüsse verbunden sind. Geldflüsse, die allerdings versiegen, wenn nicht Millionen solcher Narren wie ich in den Fernseherapparat starren und ihr nationales Selbstwertgefühl an den Erfolg ihrer Helden hängen. Was bliebe wohl übrig von den olympischen Spielen, wenn die Athleten einfach die Damen und Herren XY wären, ohne Nationalhymnen, ohne Nationenwertung, ohne so zu tun, als kämpften sie für die Ehre ihres Landes? Was bliebe wohl übrig von diesen Spielen, wenn nicht ein Heer von Reportern unter dem Motto des völkerverbindenden Sports unsere chauvinistischen Gefühle aufstacheln würde, so daß wir Haßgefühle entwickeln auf den Kampfrichter und den Gegner, weil wir sie für parteiisch und unfair halten? Was übrig bliebe? Wohl nicht recht viel. Aber vielleicht wären es dann wirklich Spiele und vielleicht wäre dann sogar von Mitspielern aus aller Welt die Rede statt von den Gegnern, die es zu besiegen gilt ...

Tut mir leid, meine Entgleisung. Manchem Sportreporter habe ich wohl unrecht getan. Auch weiß ich, was Freude an der Bewegung, Freude am Wettkampf und Freude an der Leistung ist. Aber es gibt eben nichts, das nicht durch Übertreibung zum Unsinn würde. Und damit haben wir es im Spitzensport wohl zu tun.

Immer schon war die Ablenkung von Schwierigkeiten, die es im eigenen Land gab, Anliegen von Regierungen. Unzählige Kriege wurden nicht zuletzt deshalb geführt, weil sie ein vorzügliches Mittel sind, um von den eigentlichen Problemen, die es zu lösen gilt, abzulenken. Gewiß ist es ein Fortschritt, wenn die Ablenkung von schwierigen und unangenehmen Problemen heute immer seltener über kriegerische Auseinandersetzungen erfolgt, sondern über das mediale Hochpuschen banaler Ereignisse. Und in dieser Funktion stellt der Sport einen idealen Dauerbrenner dar. Allein, es stellt sich die Frage, ob es wohl so sinnvoll ist, von den anstehenden Herausforderungen abzulenken.

Zweifellos besteht auch auf dem Medienmarkt eine Wechselwirkung zwischen Angebot und Nachfrage, die dazu führt, daß vorwiegend geschrieben und gesendet wird, was sich gut verkauft. Und so erscheint es mir durchaus zulässig, eine Antwort auf die Frage: „Wo steht unsere Gesellschaft, was bewegt die Menschen in der Ersten Welt?“ über Sendezeiten in Fernsehen und Rundfunk und über Seitenzahlen in den Tageszeitungen zu suchen. Wenn Du die aktuelle Berichterstattung unter diesem Aspekt betrachtest, wirst Du Dir unschwer ein Bild machen können, welchen Stellenwert Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport einnehmen. Was dabei herauskommt, ist zweifellos eine Antwort auf die Frage:„Was bewegt die Menschen?“. Aber das ist noch nicht die ganze Antwort. Ich habe von Wechselwirkung zwischen Angebot und Nachfrage gesprochen. Natürlich läuft es auch andersrum! Das Angebot lenkt die Nachfrage. Die Interessen werden durch das Angebot bewußt gesteuert. Die Tatsache, daß Fernsehen, Rundfunk und Printmedien dem Sport so breiten Raum widmen, ist auf einen Sachzwang zurückzuführen, in den sie sich selbst – und wohl nicht ohne Absicht – hineinmanövriert haben. Und so ist die Antwort auf die Frage: „Was bewegt die Menschen?“ zugleich die Antwort auf die Frage: „Wohin werden die Menschen bewegt, gesteuert, manipuliert?“. Welche Themen werden hochgespielt? Welche werden unterkühlt oder gar totgeschwiegen? Und es wird auch die Frage zulässig sein, wessen Interessen diese Manipulation entgegenkommt. Wer profitiert davon? Ich ergehe mich jetzt nicht in Beschimpfungen von Multis, Lobbies und dergleichen. Du wirst selbst dort oder da eine Antwort finden. Überall stehen ganz konkrete Menschen dahinter, die eben ihre Interessen vertreten, so wie ich es mit den meinen tue und Du hoffentlich mit den Deinen. Das ist nur legitim. Aber es ist auch legitim, wenn wir uns etwas einfallen lassen, um die Durchsetzung von Einzelinteressen dort zu erschweren, wo sie gegen das Gemeinwohl gerichtet, nekrophil sind und zudem noch mit übermäßigen Machtmitteln ausgestattet. Und dazu gehört zunächst die Einsicht, daß wir alle mehr oder minder manipulierbar sind. Wir müssen aufhören, uns erhaben zu fühlen. Das ist die erste Voraussetzung dafür, daß wir uns schrittweise dieser Manipulation entziehen. Ganz schaffen wir es ohnehin nicht. Aber jeder Schritt in diese Richtung bedeutet eine Einschränkung der Macht, die nekrophile Interessen auf uns auszuüben vermögen.

Noch ein Wort zum Spitzensport oder besser gesagt zum Publikumssport. Für ihn wird gerne das Argument ins Treffen geführt, er sei das ideale Betätigungsfeld schlechthin, um aufgestaute Aggressionen auf harmlose Weise abzureagieren. Zweifellos haben wir es mit einer gewissen Neigung des Menschen zu aggressivem Verhalten zu tun. Es ginge wohl ebenso an der Realität vorbei, diese angeborene Aggressionsneigung zu leugnen, wie sie als eine schicksalhafte unabänderliche Tatsache hinzustellen, mit der man noch am besten zu Rande kommt, wenn man für Möglichkeiten sorgt, die Aggressionen abzureagieren. Ich bezweifle nicht, daß der Sport unter den Aktiven Freundschaften über manche Art von Grenze hinweg ermöglicht hat. Aber ich bezweifle, daß die Fanclubs von FC Liverpool und von Athletico Madrid einander anläßlich ihrer Straßenschlachten näherkommen. Und wenn Du mir jetzt entgegenhalten magst, daß es sich dabei um Auswüchse handelt, so sage ich, ja, es sind Auswüchse: die nur allzu logischen Auswüchse von jenem Stamm der Millionen Sportfans, die über die Medien bedient, motiviert und manipuliert werden. Nimm dem Sportpublikum den Chauvinismus, die Parteilichkeit, und Du nimmst ihm das Interesse am Sport! Für das Publikum bezweifle ich die aggressionsableitende und abbauende Funktion des Sports. Ich sehe vielmehr ein Trainingsfeld für aggressives Verhalten. Und ich sehe ja auch durchaus so manches Interesse an diesem Aggressionstraining. Etwa im Sinne des Spruches:„Wehrhaft ist ehrhaft“.

Habe ich ein gestörtes Verhältnis zum Sport, daß ich mich so ungehemmt darüber auslasse? Sicher habe ich ein zwiespältiges Verhältnis, denn ich verdanke dem Sport auch viele, viele Stunden in meinem Leben, die ich nicht missen möchte, aber natürlich auch manchen Krankenhausaufenthalt. Und ich stehe zu dieser Zwiespältigkeit, nicht nur im Sport. Für mich bedeutet sie nichts anderes, als daß man Dinge, die man lieb gewonnen hat, auch aus kritischer Distanz zu betrachten gelernt hat, und daß man andererseits Dingen, zu denen man in kritischer Distanz steht, auch ihre liebenswerten Seiten abgewinnen kann.

So und nicht anders ist es zu verstehen, wenn ich von all den Sonderlichkeiten spreche, die unsere Gesellschaft hervorgebracht hat, und die wir uns bereits so weit zueigen gemacht haben, daß uns ihre skurrile Perversion gar nicht mehr in den Sinn kommt. Ich will doch dem Fitneßbewußten nicht zu nahe treten, der sich in seinem Keller ein Fahrrad aufgestellt hat, das zwar doppelt soviel gekostet hat wie ein normales Rad, dafür aber den Vorzug hat, daß es wenig Platz einnimmt, weil man damit nicht einen Millimeter vom Fleck kommt. Und eine ganze moderne Folterkammer hat er sich eingerichtet. Apparate mit Gewichten, Stahlfedern und Kunststoffpolsterung, von der sich der Schweiß gut abwaschen läßt. Im Nebenraum befindet sich eine Sauna, elektrisch in 20 Minuten aufzuheizen. Das ist ohnehin die Mindestverweildauer in der Folterkammer. Nach Folterkammer und Sauna geht’s in die Bar zu alkoholfreiem Bier und Iso-Getränk aus der Aludose. Alles ausprobiert! Und ich sage Dir, es ist ein herrliches Wohlgefühl, anschließend in ein Leintuch gehüllt, „nachzubacken“. Und vielleicht war für meinen Gastgeber der Genuß noch größer, stand die wohlverdiente Ruhe doch im Kontrast zu dem stressigen Arbeitstag, den er hinter sich hatte und der der Preis ist, den man für den Besitzerstolz eben zu zahlen hat. Nein, ich will ihm nicht zu nahe treten, aber ein bißchen schmunzeln wird man wohl dürfen. Auf seinem Schreibtisch fand ich einen Hochglanzkatalog einer Gartengerätefirma. Das Umschlagbild zeigte zur Hälfte eine bunte Blumenwiese und daneben einen modernen Rasen in monotonem Grün. Im Katalog waren all die Gerätschaften aufgelistet, die man kaufen muß, um erfolgreich eine bunte Blumenwiese in einen modernen Rasen zu verwandeln. Und er hatte sie auch alle, die Geräte. Sein besonderer Stolz war ein selbstfahrender Rasenmäher. Schmunzeln wird man wohl noch dürfen. Wenn der wüßte, wie gut sich Sense und Rechen als Fitneßgeräte eignen.

Heute kommt meine Frau nach Hause und bringt ein paar Gemüselaibchen aus einem Bio-Restaurant mit. „Ich wollt’s einfach einmal ausprobieren“, sagt sie, „aber ich geh’ da nicht mehr hin. Nicht, weil’s so teuer ist. Die Atmosphäre mit all den gestreßten Gesichtern dieser Bio-Fanatiker muß ich mir wirklich nicht geben.“

Es läßt sich eben alles übertreiben. Und bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, daß jede Qualitätsfrage letztlich eine Frage des Maßes ist. So manches Gift in der entsprechenden Dosis verabreicht ist Medizin. Und eben auch umgekehrt. Die Frage ist, wieviel davon tut uns gut. Und das gilt für alles, womit wir es zu tun haben. Das Habens-Prinzip, das bei uns so überhandgenommen hat, ist unersättlich. Es führt zu dem Wahn, mehr sei stets besser. Mehr Geld, mehr Einfluß, Macht, Verfügungsgewalt, mehr Besitz. Größer, schneller, teurer. Maßlos. Der ganz normale Wahnsinn, dem wir anheimgefallen sind.

 

Die Haßliebe der Marktwirtschaft zur Demokratie




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Zweifellos gehört die Ausbreitung des Eigentumsbegriffes auf die verschiedensten Lebensbereiche zu den Eigenheiten unserer Kultur, die wir uns bereits so weit zueigen gemacht haben, daß uns ihre skurrile Perversion gar nicht mehr in den Sinn kommt. Wahrscheinlich bedarf es schon einiger Übung in biophilem Denken und einer gewissen Verabschiedung vom Habens-Prinzip, um beispielsweise den Begriff des „geistigen Eigentums“ als abendländisches Kulturprodukt zu sehen, als eine rechtliche Übereinkunft, die das Ziel hat, geistige Produkte zur Handelsware zu machen und somit umsetzbar in Geld, Besitz und Macht, wie es dem Habens-Prinzip entspricht.

Wäre es denkbar, daß ein buddhistischer Mönch eine von ihm entwickelte Meditationsmethode, die zur Erleuchtung führt, patentieren ließe, um sich das exclusive Nutzungsrecht zu sichern? Wäre es denkbar, daß der Schamane seine Heilmethode patentieren würde, um eifersüchtig darüber wachen zu können, daß kein „Unbefugter“ segensreich damit wirke? Was glaubst Du wohl? Empfindet der Schamane seine Fähigkeit zu heilen – so viele harte Lernjahre er dafür auch aufgewendet haben mag – als sein Verdienst, von dem er das Recht ableitet, sie nur dem Höchstbietenden zugute kommen zu lassen, sie dem Armen aber zu verweigern? Wohl kaum. Ich glaube, er empfindet sie eher als Gnade, die ihm zuteil geworden ist und ihn verpflichtet, segensreich damit umzugehen. Er weiß nämlich zu genau, daß er sich in seinem Handeln nicht von kurzsichtigen egoistischen Motiven leiten lassen darf, wenn es sich nicht gegen ihn selber wenden soll, wenn er nicht selbstzerstörerisch tätig werden will. Das ist es ja wohl, wodurch sich seine Kunst von der Schwarzen Magie unterscheidet. – Ach ja, ich hatte ganz vergessen: Magie gibt es ja nicht, also auch nicht die Schwarze. Das haben wir ja abgeschafft. Ist auch egal. Dann unterscheidet sich seine Kunst eben von der Art, wie wir mit unseren wissenschaftlichen Errungenschaften umgehen und mit unseren Erfindungen. Das läuft ziemlich auf dasselbe hinaus: Wir verwandeln unsere geistigen Produkte in Handelsware. Das Patentrecht macht es möglich. Was sich da hinter der Tarnung „Erfinderschutz“ verbirgt, ist in Wahrheit das Recht des Stärkeren und vor allem ein Verhinderungsrecht.

Du glaubst das nicht? Du findest, es wäre ja nur das gute Recht eines Erfinders, an den Geschäften, die sich aus seiner Erfindung ergeben, mitzuschneiden? Damit wäre ich gerne einverstanden: Wer seine Fähigkeiten zum Wohle seiner Mitmenschen einbringt, sollte davon auch leben können. Die Praxis sieht allerdings anders aus: Zunächst mußt du wissen, daß dem Erfinder das Recht auf sein geistiges Eigentum nicht einfach zusteht. Er muß es erst durch Kauf erwerben, indem er seine Erfindung patentiert. Und das gesondert in jedem Land, in dem er seine Urheberrechte geltend machen will. Nicht genug damit: Er hat für die Aufrechterhaltung seiner Rechte jährlich Patentgebühren zu entrichten – und zwar steigende. Wenn Du nun noch bedenkst, daß es meist mehrerer Zusatzpatente bedarf, um einen umfassenden Schutz des geistigen Eigentums zu erreichen, wirst Du verstehen, daß ein Erfinder keine Chance hat, seine Rechte auch nur wenige Jahre aufrechtzuerhalten, wenn er nicht über ein beachtliches Privatvermögen verfügt. Daher läuft es meistens so: Der Erfinder wird einfach ausgehungert. Irgendwann kann er seine Patentgebühren nicht mehr bezahlen und ist bereit, seine Patentrechte billig abzugeben. Daraus folgt: Nur ein potenter Erfinder, der auch in der Lage ist, Entwicklung, Produktion und Vermarktung seiner Erfindung durchzustehen, kann auch einen angemessenen Preis erzielen, wenn er seine Patentrechte veräußert.

Und nun kommt der zweite Teil der Praxis: Die meisten Patentkäufe erfolgen nicht, um die Erfindung zu verwirklichen, sondern um eine Verwirklichung zu verhindern. Das Patent landet in der Schublade. Verständlich. Denn wenn ich beispielsweise um viele Millionen eine Fertigungsstraße für Motoren gebaut habe, und mir droht das Out für meine Produktion, sobald die Konkurrenz einen besseren Motor entwickelt, dann lasse ich schon etwas springen, um diese Gefahr abzuwenden. Ich kaufe die Patentrechte auf, um ungestört mit meinem alten Zopf weiterverdienen zu können.

Du zweifelst? Ich habe genau diesen Fall mit großem Interesse verfolgt, weil ich wissen wollte, was von den lautstarken Beteuerungen von seiten der Politik und der Wirtschaft wohl zu halten sei, sie täten alles, was in ihren Kräften liege, um ökologisch sinnvolle Entwicklungen voranzutreiben. Nach zwei Jahren war auch für mich Optimisten die Antwort klar: Nichts! Jetzt nach weiteren acht Jahren hat endlich ein namhafter Konzern die Entwicklung des Motors in Angriff genommen. Eines Motors, der ein neues Automobilantriebssystem ermöglicht, das Treibstoffverbrauch und Abgase um rund die Hälfte senkt und überdies wie kaum ein anderes für den Elektrobetrieb im Stadtverkehr geeignet ist. Noch bleibt abzuwarten, ob der Konzern ernsthafte Absichten in Richtung Ökomobil hegt oder ob es ihm nur um einen Entwicklungs- und Patentvorsprung für die Schublade geht. Ich habe zweifeln gelernt. Der Erfinder jedenfalls ist in den zehn Jahren ein beachtliches Privatvermögen losgeworden und blickt einer unsicheren Zukunft entgegen. So sieht die Praxis des Erfinderschutzes aus. Es ist eine Illusion zu glauben, in einer solchen Rechtssituation wäre die Biophilie eines Projektes ein zugkräftiges Argument für seine Verwirklichung. Erfindungen zur Energieeinsparung, zur Nutzung erneuerbarer Energie, zur Verringerung der Schadstoffemission, zur Entwicklung sanfter Produktionssverfahren haben wenig Chancen, umgesetzt zu werden. Nicht viel anders steht es um soziale Projekte. Natürlich gibt es sie: Projekte zur Selbsthilfe und zur sozialen Integration von Behinderten, Kranken, Alten, Flüchtlingen, Mißhandelten, Drogenabhängigen. Projekte zur Resozialisierung Gescheiterter. Projekte zur Förderung von interkultureller Zusammenarbeit und von gegenseitigem Verständnis und Respekt, Projekte zum Abbau von Feindbildklischees und zur Entwicklung von Friedensfähigkeit. Initiativen zur Förderung fairer Geschäftsbeziehungen mit Ländern der Dritten Welt. Natürlich gibt es sie. Und es gibt auch viele Menschen, die an die Zukunft glauben, weil sie mit ihren Ideen, Erfindungen und Projekten einen bescheidenen Beitrag leisten. Auch gibt es Geldinstitute, die solche Projekte fördern. Es gibt die Öko-Bank in Stuttgart, die ökologische Projekte finanziert, oder die Weltbank der Frauen, die weltweit in biophile Kleinprojekte von Frauen investiert. Sie wurde wegen ihres bescheidenen Geschäftsumfanges und ihrer auf persönlicher Anteilnahme beruhenden, partnerschaftlichen Geschäftspraxis von der Großfinanz geringschätzig belächelt, hat aber mittlerweile eine Kapitalrückflußquote erreicht, von der die großen männerdominierten Geldinstitute mit ihren unpersönlichen und harten Geschäftspraktiken nur träumen können. Oder es gibt die Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken, eine Non-Profit-Organisation, die sich zur Aufgabe gestellt hat, Menschen, die ihr Geld sinnvoll einsetzen wollen – auch das gibt es! –, und die Betreiber biophiler Projekte zusammenzuführen und die Abwicklung der so angebahnten Geschäfte zu übernehmen.

Auch das ist ein Trend. Bescheidener freilich und leiser als die Großfinanz und der Börsenbetrieb, aber das ist ja wohl ein Wesenszug biophiler Unternehmungen, daß sie nicht so viel Wind machen. Sie alle zeigen eine Richtung auf, in die es wohl wird gehen müssen, und in die es auch gehen kann. Nur muß man auch sehen, daß all diese hoffnungsfrohen Signale nicht mehr sein können als das Aufleuchten von Glühwürmchen in finsterer Nacht, solange wir vom Habens-Prinzip besessen sind.


Gesetze spiegeln das Kräfteverhältnis in einem Gemeinwesen. Das kann gar nicht anders sein, denn wer in einer starken Position ist, setzt seine Interessen stets besser durch als der Schwache. Daher ist es nur logisch, daß das gesamte Rechtswesen – sosehr wir die Überwindung des Faustrechts auch als eine soziale Kulturleistung hinstellen mögen – doch im Grunde nichts anderes ist, als Brief und Siegel für das Recht des Stärkeren. Und so gesehen nimmt es auch nicht wunder, daß weltweit die Reichen reicher werden und die Armen ärmer. Die Zahl der Super-Reichen, in deren Händen sich die Mittel konzentrieren, nimmt ständig ab, die Zahl der Mittellosen nimmt ungeheuer zu. Dazwischen liegt eine einigermaßen wohlhabende Schicht, die ihre Existenz dem Umstand verdankt, daß sie als Konsumentenschicht benötigt wird, wenn dieses System funktionieren soll, das sich Marktwirtschaft nennt.

Diesen Umstand aber zu bedauern und den Ruf nach mehr Gerechtigkeit in dieser Welt erschallen zu lassen, wird unmittelbar wenig daran ändern. Kein Politiker und kein Wirtschaftstreibender wird sich davon beeindrucken lassen. Solange der Hang besteht, das verfügbare Geld für Luxus auszugeben, wird Luxus produziert. Solange Staaten ihr Budget lieber zur Aufrüstung verwenden als für biophil einsetzbare Produkte, bleibt die Aufforderung „Schwerter zu Pflugscharen!“ ein frommer Wunsch. Nicht minder naiv als die Empfehlung an den Herrn Finanzminister, er möge doch endlich die Werbung besteuern. Und nicht minder naiv als die vielen schönen Empfehlungen, die Unsummen nekrophil vergeudeten Geldes doch sinnvoller einzusetzen. Weder läßt sich so der Warenstrom etwa der Lebensmittel dorthin umdirigieren, wo er zwar am dringendsten gebraucht wird, wo aber kein Geld ist, noch läßt sich der Fluß des großen Geldes einfach dorthin umlenken, wo es biophil wirkt. Das spielt es nicht. Nicht in einer vom Habens- und Konkurrenzprinzip beherrschten Welt.

Die Chance liegt in der Demokratie. Die großen Akteure der Marktwirtschaft wissen nämlich nur zu genau, daß diese Marktwirtschaft nur über unzählige Einzelinitiativen funktionieren kann, und daß dazu Menschen gehören, die über ein Mindestmaß an Freiheit und demokratischen Rechten verfügen und ein Mindestmaß an Mündigkeit entwickelt haben. Das Verhältnis der Marktwirtschaft zur Demokratie ist von seiner Natur her eine Haßliebe.

Man mag die Marktwirtschaft verteufeln und sie für die Ungerechtigkeit auf dieser Welt verantwortlich machen und dafür, daß wir so finster entschlossen an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen. Und zweifellos sind das Folgen der Marktwirtschaft, die geradezu zwangsläufig entstanden sind und sich auch so lange noch verschärfen werden, als soziale Gerechtigkeit und ökologische Verantwortung keine Faktoren sind, die in der Marktwirtschaft nennenswert zu Buche schlagen.

Aber ebendiese Marktwirtschaft ist es auch, die aufgrund ihrer Vernunftehe mit der Demokratie eine reale Chance zur Veränderung in sich trägt: Der Wähler kann die Politiker in die Pflicht nehmen. Er kann sie zwingen, die gesetzlichen Rahmenbedingungen so zu ändern, daß soziale Ungerechtigkeit und ökologische Verantwortungslosigkeit dem Unternehmer teuer zu stehen kommen. Ich kenne kein Wirtschaftssystem, das rascher und umfassender auf solche geänderten Rahmenbedingungen reagiert, als die Marktwirtschaft. Nur: Freiwillig und aus eigenem Antrieb wird sie sich wohl kaum zu einer ökosozialen Marktwirtschaft wandeln. Und auch die Politiker werden zwar gerne von diesem Wandel reden, aber sie werden nichts Ernsthaftes in diese Richtung unternehmen, solange sie nicht vom Wähler dazu gezwungen werden. Der Wähler kann sich zu jener Macht entwickeln, die in der Lage ist, die ökologisch-sozialen Notwendigkeiten in der Marktwirtschaft durchzusetzen. Noch tut er es nicht.

Es sind schon viele Menschen wegen eines Stücks Brot erschlagen worden. Und wer dieses Schicksal nicht erleiden will, hat nur die Wahl, das Messer zu ziehen: Entweder um sein Stück Brot zu verteidigen, oder um es zu teilen. Es ist wohl kein Zufall, daß gerade dort, wo Menschen in bescheidensten Verhältnissen leben, die Gastfreundschaft, also das Teilen, die höchste Entfaltung gefunden hat. Ich bin überzeugt, das ist nicht zuletzt auf die Erfahrung vieler Generationen zurückzuführen, daß Teilen allemal der wirksamere Selbstschutz ist als Verteidigen. Was im Kleinen so einleuchtend ist, sollte doch auch im Großen erkennbar sein. Und doch setzt die Erste Welt offensichtlich darauf, das Messer zur Verteidigung zu wetzen und nicht, um zu teilen.

Ich denke, der Wähler ist in der Lage, zu erkennen, daß das auf Dauer nicht gutgehen kann und daß die Wahl in letzter Konsequenz lautet: Entweder wir tragen unseren Teil dazu bei, daß allen Menschen auf dieser Erde ein bescheidenes Leben in Würde und gegenseitiger Achtung erreichbar wird, oder aber wir schaffen das nicht und beenden damit selbst die Episode Mensch im ewigen Spiel der Natur.

 

Die Wahl zwischen zwei Rollen




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Ich habe einem Bekannten eine Passage aus dem Manuskript zu diesem Buch vorgelesen. Nach einem Monat treffe ich ihn wieder und er sagt zu mir:„Du weißt gar nicht, was Du ausgelöst hast. Ich wollte mit dem Auto zum Jazzfestival nach Saalfelden fahren. Du hast mich auf die Idee gebracht, ich könnte mich ja auch auf mein Rad schwingen“. Und dann schilderte er mir eine Stunde lang begeistert all die Erlebnisse und Begegnungen, die er dieser Radtour zu verdanken hat, und hinter der das eigentliche Ziel der Reise, das Jazzfestival, verblassen mußte. Er hat mich sehr ermutigt, weiterzuschreiben, denn es sind diese Dinge, die die Lebensqualität ausmachen und so manchen Luxus, dem wir atemlos nachlaufen, entbehrlich erscheinen lassen. Es sind das die vielen kleinen Schritte, mit denen wir uns nach und nach aus der Umklammerung befreien, in die uns das Habens-Prinzip gebracht hat.

Auf der anderen Seite bekomme ich immer wieder zu hören: „Was soll das Ganze? Es bringt ja doch nichts! Ich komme mir wie ein Trottel vor, wenn ich mich mit dem Fahrrad in die Auto-Schlacht stürze, die Abgase ins Gesicht geblasen bekomme und riskiere, von diesen Wahnsinnigen einfach niedergefahren zu werden. Ich sehe nicht ein, warum ich als Konsument mir Gedanken machen soll, über Herkunftsland, Umweltverträglichkeit, Verpackung, Entsorgungsprobleme und dergleichen mehr. Es stehen mir hunderte und aberhunderte unkritische Konsumenten gegenüber, und mein Verhalten ändert überhaupt nichts an dem ganzen Wahnsinn. Wenn es auch nur irgendetwas nützen würde, okay, dann wäre ich dabei, aber so, nein, ich bin doch nicht blöd!“ Meistens ist das dann noch verbunden mit dem Bedauern, daß die große Masse eben nicht bereit ist, auch nur ein Mindestmaß an Verantwortung zu übernehmen: „Wissen, was er damit anrichtet, tut jeder. Jedes Kind weiß das heute. Aber die Bequemlichkeit und der Luxus ist ihnen wichtiger und das Angeben. Alles andere ist ihnen egal. Da sind sie zu dumm und zu faul, darüber nachzudenken“.

Da weiß ich dann nicht recht, was ich darauf sagen soll. Soll ich ihn vielleicht fragen, ob er alles, was er bei anderen kritisiert, selber macht, oder ob er es nur in Umweltbelangen so hält? Soll ich ihm die Geschichte von der Prüfungskommission erzählen und von dem Kandidaten, der schon bei zwei Versuchen durchgefallen war, so daß diese Prüfung seine letzte Chance darstellte, und der beim Anblick der Prüfungskommission das Stottern bekam und zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war? Die Geschichte vom Prüfer, der mit einem zehnminütigen Gespräch die Kommissionsmitglieder gelangweilt, den Kandidaten aber beruhigt und zu einer guten Prüfung hingeführt hat? Soll ich ihm das anschließende Gespräch zwischen dem Prüfer und einem Kommissionsmitglied erzählen, in dem die zwei Möglichkeiten, mit Unzulänglichkeiten umzugehen, so deutlich zum Ausdruck kamen? Das Kommissionsmitglied, jenes, das den Kandidaten bei der letzten Prüfung hatte durchfallen lassen, sagte:„Zugegeben, er hat wirklich viel gewußt. Aber sag’ einmal ehrlich, bist Du in Deiner ganzen Karriere je so human geprüft worden?“ Und als der Prüfer sagte, nein, das sei er nicht, meinte er triumphierend: „Na siehst Du!“ Und der Prüfer fragte:„Soll ich alles, was ich schlecht finde, auch selber schlecht machen?“ Das ist eine schöne Geschichte, aber ob es etwas hilft, wenn ich meinem frustrierten Gesprächspartner versuche klarzumachen, daß er sich eben zu entscheiden habe, welche der beiden Rollen er zu spielen gedenkt, weiß ich nicht. Oder soll ich ihm vielleicht für das treffende Selbstportrait danken, das er mir gezeichnet hat, und ihm erklären, daß eine solch traurige Beurteilung seiner Mitmenschen nur zustandekommt, wenn er alles, was er an sich selbst haßt, auf die anderen projeziert? Nein, das führt zu nichts. So sehr es zutreffen mag, damit dränge ich ihn nur noch mehr in sein nekrophiles Out. Also sage ich:„Wenn’s Dir keinen Spaß macht, dann laß es lieber bleiben, weil dann bringt’s auch nichts. Weder Dir noch den anderen.“ Und ich denke mir dabei, es muß eben Vorreiter geben und Nachläufer. Die ersten schwimmen immer gegen den Strom. Und wenn’s einmal „in“ ist, dann kommen die anderen schon nach.

Am Anfang sind’s naturgemäß nur wenige, die Gefallen finden an dem Spiel, das da heißt „Abhandenkommen“, die entdecken, daß es Spaß machen kann, den Produzenten, die ohne Rücksicht auf Verluste produzieren wollen, als Konsumenten abhandenzukommen. Daß es Spaß machen kann, den Militaristen als Soldaten abhandenzukommen, den Politikern, die sich in den Dienst von Wirtschaft und Militarismus stellen, als Wähler abhandenzukommen, der Pharma- und Krankheitsvermarktungsindustrie als Patient abhandenzukommen. Es kann Spaß machen, den Herren mit den weißen Westen, die ihre Feindbilder kultivieren, als Gefolgschaft abhandenzukommen, den Kirchenfürsten, die über Dogmen reden und über Tabus schweigen, als Gläubige abhandenzukommen, den Suchtgifthändlern, die uns im Drogen- oder Konsumrausch haben wollen, als Süchtige abhandenzukommen oder dem Unternehmer, der uns rotieren läßt, als Arbeitskraft. Und es gibt noch so manchen weiteren Bereich, wo wir mit unserem Abhandenkommen nicht nur uns einen Spaß bereiten können, sondern auch noch ein gutes Werk vollbringen. Es ist ein großartiges Spiel, denn es macht uns mit jedem noch so kleinen Abhandenkommen um eine Stufe freier. Vor allem aber müssen wir den Geldleihern und Zinseneintreibern als Kreditnehmer abhandenkommen, denn sonst ist’s nichts mit der Freiheit! Abhandenkommen ist ein Glücksspiel mit hundertprozentiger Erfolgsgarantie: Jedes Abhandenkommen ein Glück! Für den eigenen Lebensweg und für’s gemeinsame Überleben auf unserem Planeten. Und jeder noch so kleine Schritt in diese Richtung ist ein Beitrag zu einer humaneren Welt.

Wem die kleinen Schritte zu wenig sind, wem das alles zu langsam geht, wer glaubt, den Bulldozer zu brauchen um die Welt in Ordnung zu bringen, der neigt wohl auch dazu, den Frieden mit Waffengewalt zu verbreiten. Der hat eben wenig Ahnung vom Wesen der Biophilie. Sie wird immer unauffällig sein, leise und bescheiden, sanft, schlicht und ruhig, aber tief. Sie ist wie der Landregen, der alles zum Sprießen bringt. Millionen von segensreichen Wassertröpfchen, die leise rieseln, jeder einzelne eine scheinbare Belanglosigkeit, gemeinsam aber der Quell des Lebens. Wem die Rolle des Tröpfchens zu wenig ist, wer glaubt, er müsse mit Donner und Getöse Gewitter sein, reißender Wildbach oder Sturmflut, um die Welt noch zu retten, der merkt nicht, wie sehr er im nekrophilen Denken unserer gigantomanischen Ersten Welt verhaftet ist. Er hat noch ein Stück Weges zurückzulegen. Er hat noch den Frust zu verdauen, daß ihm der große Hebel nicht gegeben ist, mit dem sich in einem einzigen Ho-Ruck alles in Ordnung bringen ließe. Erst dann wird er reif, das einzig Sinnvolle zu tun: Den Landregen um ein Tröpfchen zu bereichern!


Um sich Klarheit über den Zustand der Atmosphäre zu verschaffen, hat die NASA einen bemannten Raumflug unternommen. Einer der Kosmonauten sagte:„Um das festzustellen, brauche ich keine Instrumente. Als ich vor zehn Jahren heroben war, hat das noch anders ausgesehen. Jetzt überzieht die Erde ein Schleier, der nicht zu übersehen ist.“ Ich frage mich, wie lange wir uns noch mit langwierigen und kostspieligen wissenschaftlichen Forschungen vertrösten lassen, die nur einen einzigen Zweck haben, nämlich die einzige Notwendigkeit, die es wirklich gibt, so lange wie möglich aufzuschieben: den radikalen Ausstieg aus der Schadstoffproduktion.

Muß ich ein Team von Meeresbiologen jahrelang forschen lassen, um zu der Erkenntnis zu gelangen, daß das Meer keine geeignete Giftmülldeponie ist? Wahrscheinlich sind wir schon so weit, daß wir das brauchen, denn den kollektiven Selbstmord dutzender Grauwale sind wir offensichtlich nicht mehr in der Lage als Signal zu verstehen. Wir sind verunsichert, wir haben die Orientierung verloren. Während unsere Wissenschaften in immer tiefere Geheimnisse des Lebens vordringen, haben wir das Gesetz des Lebens aus den Augen verloren. Festgefügte Normen werden brüchig und versagen als Orientierungshilfe. Die notwendigen Entscheidungen fallen immer schwerer angesichts einer Welt, die in immer rascherem Wandel begriffen ist und die wir immer deutlicher als ungeheuer kompliziertes und sensibles vernetztes Gebilde erkennen. Die Entscheidungen fallen umso schwerer, als wir erkennen müssen, daß wir ihre Auswirkungen nicht abschätzen können. Diese Verunsicherung ist aber, wie mir scheinen will, die Voraussetzung dafür, daß wir uns von unserer Wissenschaftsgläubigkeit befreien und zu jenem Wissen zurückfinden, das auch in uns noch ruht; zu jenem Wissen, in dem sich alle Kompliziertheit auflöst, so daß die nötigen Entscheidungen plötzlich sonnenklar auf der Hand liegen und unsere Verirrungen offenkundig werden; zu jenem Wissen, das die Botschaft der Indianer ist, der Indigenos oder der Aborigines. Die Botschaft, die wir fünf Jahrhunderte hindurch die Überheblichkeit besaßen zu überhören und die auch aus Australien zu uns dringt in der Legende von der Regenbogenschlange:

Wir waren die ersten Menschen auf diesem Kontinent.

Wir folgen noch immer dem Gesetz aus der Traumzeit.

Dieses Gesetz macht uns zu Hütern des Landes.

Das Land wurde in der Traumzeit erschaffen.

Das Land ist für uns heilig.

Wir kommen aus der Erde.

Wir gehen zurück in die Erde.

Dazwischen tragen wir die Verantwortung,
daß dem Land nichts geschieht.

Alle Lebewesen sind mit uns verwandt.

Unsere Erde ist die Mutter allen Lebens.

Das Land hat heilige Plätze, es sind Plätze der Kraft.

Die Regenbogenschlange ist die Hüterin der Kräfte der Erde.

Das Gesetz aus der Traumzeit warnt uns davor,
das Land zu zerstören und jene Kräfte zu wecken.

Es spielt keine Rolle, wer Du bist.

Die heiligen Orte der Kraft mußt Du respektieren.

Der weiße Mann denkt, er weiß es besser.

Doch er hat das Wissen verloren.

Wir berühren die Erde bloß, wie ein Regenbogen
die Spitze eines Berges berührt.

Der weiße Mann vergewaltigt unsere Mutter Erde.

Der Schmerz ist schrecklich.

Wir spüren es.

Wir alle sind verwandt: Berge, Flüsse, Bäume,
Schlange, Adler und Mensch.

Die Verwandtschaft verpflichtet uns zur Verantwortung.

Der weiße Mann versteht uns nicht.

Ihn treibt die Gier.

Doch Gier hat keine Zukunft.

Wir kennen die Kräfte der Erde.

Wir müssen behutsam mit dem Land und
seinen Kräften umgehen.

Die Warnungen unserer Vorfahren geben wir
an unsere Kinder weiter.

Wenn wir die Erde mißachten, kann schreckliches
Unheil über uns kommen.


 

 

Pragmatismus und Phantasie




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Eine Wahrheit ist der Pragmatismus, die Kunst des Möglichen. Die Kunst zu erkennen, wo Schwierigkeiten zu erwarten sind, Hindernisse, und die Finger davon zu lassen. Eine Kunst, die Politiker in hohem Maße verstehen. Die werden sich hüten, sich die Finger zu verbrennen. Es ist die Kunst, sich Zwängen zu fügen. Aber es ist auch die Kunst, Zwänge zu erzeugen, auf die man sich dann in seinen Entscheidungen berufen kann, das Spiel mit den Sachzwängen. Vielleicht ist es nur ein böser Verdacht, aber es deutet doch einiges darauf hin. Ich will es an dieser Stelle bei einigen Andeutungen bewenden lassen. Ich komme später etwas ausführlicher darauf zurück. Nur damit Du weißt, woran ich denke, wenn ich von Pragmatismus spreche und vom Spiel mit den Sachzwängen: Ist Arbeitslosigkeit wirklich ein unüberwindliches Problem, eine unausweichliche Folge der Rationalisierung, der Tatsache, daß Maschinen immer mehr Arbeit übernehmen? Ist die Verwirklichung des Traumes von den Heinzelmännchen, die unsere Arbeit verrichten, wirklich so ein Fluch? Oder ist die Arbeitslosigkeit ein selbstgemachter Sachzwang, der sorgfältig aufrecht- erhalten wird, weil sich damit gut operieren läßt? Ist die Energieversorgung wirklich so ein Problem? Oder ist sie ein mit Millionenaufwand an Werbung selbst geschaffener Sachzwang, der es ermöglichen soll, mehr Kraftwerke, mehr Raffinerien zu bauen? Ist die Müllentsorgung wirklich so ein Problem, und vor allem die Müllvermeidung? Oder kann das große Müllgeschäft eben erst dann funktionieren, wenn wir im Müll zu ersticken drohen? Ist das etwa ein durchaus erwünschter Sachzwang? Ist Umweltzerstörung vielleicht erwünscht, als Sachzwang, der das Sanierungsgeschäft möglich macht? Schluß damit, sonst komme ich gar noch auf die Idee, daß es ein Interesse an Zerstörung durch Kriege gibt, die den Sachzwang für das Geschäft mit dem Wiederaufbau liefert, ein Interesse am Anheizen von Konflikten, weil sie den Sachzwang zum Waffenkauf schaffen. Ein österreichischer Verteidigungsminister hat von der normativen Kraft des Faktischen gesprochen, was so viel heißt wie: Setzen wir Tatsachen in die Welt, ob sie nun real existieren oder auch nur in den Köpfen der Menschen. Sie führen dann schon zu neuen Normen, neuen Sachzwängen.

Aber Schluß jetzt damit! Pragmatismus ist ja auch erst in seiner verfeinerten Form die Kunst, Sachzwänge zu schaffen. Zunächst ist er nichts anderes als ein ausgeprägter Realitätssinn, der uns davor bewahrt, uns in hoffnungslose Utopien zu versteigen, unsere Kraft dort einzusetzen, wo sie zu nichts führt. Das ist die eine Wahrheit, ja die eine Lebensweisheit. Eine Krankheit unserer Zeit ist, daß wir zu viel von ihr haben, denn zuviel Realitätssinn tötet die Phantasie, die Vorstellungskraft, wie es anders sein könnte. Aber gerade das ist die Voraussetzung dafür, daß es auch anders werden kann. Und darum will ich jetzt von der anderen Wahrheit sprechen, von der anderen Lebensweisheit, von der Phantasie, von Wachträumen, von Utopien. Ich lade Dich ein, mich auf einen Ausflug der Phantasie zu begleiten und ein trauriges Kapitel jüngster Zeitgeschichte wenigstens im Geiste etwas menschlicher umzugestalten. Wollen wir uns einmal vorstellen, wie der Golfkonflikt hätte anders verlaufen können. Und sollte Dir Dein Realitätssinn dabei Schwierigkeiten bereiten, vergiß ihn für ein Weilchen, die Realität wird uns früh genug und hart genug wieder einholen! Aber ich denke, wir werden dann auch die Realität besser verstehen, und vielleicht naht der Tag, an dem wir auch sie menschlicher gestalten können.

Beginnen wir mit dem Zeitpunkt, wo der Irak Kuwait überfallen hat, besetzt, geplündert, annektiert, wie das so schön heißt, mit jenem Zeitpunkt, da Saddam Hussein offensichtlich mit der normativen Kraft des Faktischen gerechnet hat, mit dem Zeitpunkt, da er eine Tatsache in die Welt gesetzt hat und damit gerechnet hat, die Welt würde sich, wenn auch zähneknirschend, damit abfinden, die neue Norm letztlich als veränderte Realität akzeptieren. Und stellen wir uns nun vor, die so vielbeschworene Einsicht, daß Krieg keine Probleme löst, hätte sich in den USA und bei der UNO durchgesetzt. Ob je die reale Gefahr bestanden hat, daß der Irak auch Saudi-Arabien angreifen würde, kann ich nicht beurteilen. Ich bezweifle es. Aber sicher ist sicher. Stellen wir uns also vor, die Mitgliedsländer der UNO hätten in Saudi-Arabien zum Schutz vor weiteren Aggressionsgelüsten des Irak ein entsprechendes militärisches Potential stationiert, unter UNO-Befehlsgewalt, und die UNO hätte eine Resolution verabschiedet, in der die Annexion von Kuwait auf das schärfste verurteilt wird, in der Saddam Hussein aufgefordert wird, aus Kuwait abzuziehen, in der aber gleichzeitig in aller Deutlichkeit erklärt wird, daß dieses Ziel ausschließlich auf diplomatischem Weg verfolgt werde; eine militärische Befreiung Kuwaits komme nicht in Frage. Die Truppen hätten ausschließlich die Funktion, Saudi-Arabien vor eventuellen Übergriffen zu schützen. Diese Resolution entspringe der Überzeugung, daß Kriege nicht in der Lage seien, Probleme zu lösen, und daß Verhandlungen, selbst wenn sie sich noch so schleppend und mit noch so entmutigenden Rückschlägen über viele Jahre hinziehen, dem Leid und der Zerstörung vorzuziehen seien, die selbst ein „ideal“ verlaufender Krieg mit sich bringt.

Und stellen wir uns nun vor, man habe eine Wirtschaftsblockade beschlossen, die eine weitere Aufrüstung des Irak unmöglich machen würde, aber die Versorgung der Bevölkerung mit den lebensnotwendigen Gütern nicht gefährden würde. Stellen wir uns vor, dieser Beschluß sei aus der Erkenntnis heraus gefaßt worden, daß die Wut einer Bevölkerung, die unter der Not leidet, die ein totales Wirtschaftsembargo mit sich bringt, daß sich diese Wut nicht gegen den Diktator richtet, sondern nach außen, gegen die, die das Embargo verhängt haben. Nicht Saddam Hussein würde Gefahr laufen gestürzt zu werden. Im Gegenteil, er würde umso zuverlässigere Verbündete bekommen gegen den gemeinsamen Feind. Diese Lektion wäre ja wohl spätestens im Zweiten Weltkrieg zu lernen gewesen, als man damit gerechnet hatte, die Volkswut über die Bombenangriffe der Alliierten auf die Zivilbevölkerung würde sich gegen Hitler und das Nazi-Regime wenden. Mitnichten: Wenn etwas Hitler geholfen hat, auch noch die letzten Kräfte zu mobilisieren, dann waren es die Bombenangriffe. Der Glaube, die eigene Sichtweise, daß die Wurzel des Übels, die Schuld an all dem Leid beim Diktator und seinem Regime liege, würde sich auch bei der betroffenen Bevölkerung durchsetzen, ist ein Irrglaube, der einem Wunschdenken entspringt. Stellen wir uns also vor, diese Einsicht hätte platzgegriffen und man hätte das Embargo auf militärisch verwertbare Güter beschränkt. Wir können uns auch noch vorstellen, man hätte sich das Embargo selbst etwas kosten lassen. Schließlich hätte man durch die Vermeidung des Krieges ja auch nicht unerhebliche Mittel eingespart. Und man hätte sich dazu entschlossen, die Einhaltung des Embargos in den eigenen Landen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Man hätte so manche Hintertür, durch die das Embargo umgangen wurde, uninteressant gemacht, indem man Firmen, die durch das Embargo um ihr Geschäft zu kommen drohten, Entschädigung angeboten hätte. Wir können uns noch manches mehr vorstellen. Allein, mich interessiert etwas anderes als die Frage, was sich an Möglichkeiten anbietet, ein Embargo auch wirksam zu gestalten. Da genügt mir die – vielleicht naive – Gewißheit, daß das möglich ist, wenn man nur wirklich will, und wenn man auch bereit ist, sich das etwas kosten zu lassen. Nein, ich will mit unserem gemeinsamen Ausflug der Phantasie woandershin. Ich stelle mir vor, man hätte in der Erkenntnis, daß diplomatische Bemühungen nur in dem Maße Früchte tragen können, als sich gegenseitiges Vertrauen herstellen läßt, das so vielstrapazierte Wort von den vertrauensbildenden Maßnahmen etwas ernster genommen und die Bemühungen in diese Richtung gelenkt. Da sehe ich zunächst die Möglichkeit auf der militärischen Ebene. Beschränkung auf Defensivwaffen und auf ein Ausmaß, das eben ausreicht, um Saddam Hussein die Lust auf einen Angriff auf Saudi-Arabien zu nehmen, ihn aber auch klar erkennen läßt, daß ihm eine gewaltsame Befreiung Kuwaits nicht ins Haus steht. Vertrauensbildende Maßnahmen laufen aber vor allem auf einer ganz anderen Ebene. Und damit ich meiner Phantasie auch freien Lauf lassen kann, tu’ ich so, als wäre es wirklich anders gewesen, als hätte es wirklich keinen Golfkrieg gegeben. Nein, in meiner Phantasie war es anders: Die Mitgliedsstaaten der UNO haben beschlossen, den ersten Schritt zu tun. Sie haben Saddam Hussein angeboten, seine eigene Position in der Kuwait-Frage, der Palästinenserfrage, ja in der ganzen Nahostproblematik zu äußern. Man hat ihm Sendezeit in Fernsehen und Rundfunk der UNO-Mitgliedsländer angeboten, in denen er ohne Zensur seinen Standpunkt darlegen konnte. Auch führende Zeitungen und Zeitschriften haben ihm einen Platz für seine Stimme eingeräumt. Und er hat bald auch ausführlich davon Gebrauch gemacht. Manches wurde für uns verständlicher, manches blieb fremd für uns, einfach unverständlich. Und so hatten auch wir unsere Fragen an ihn, und wieder kam manche für uns unverständliche Antwort. Zu fremd war uns die arabische Seele, die islamische Welt. Aber es entstand bei uns ein gewisses Interesse für diese geheimnisvolle Welt. Und dann geschah etwas Erstaunliches: Kamerateams aus dem Westen wurden eingeladen, selbst Berichte aus dem Irak zu drehen. Man erfuhr zunächst mehr über das tägliche Leben, die Bräuche, die Eßgewohnheiten, über Kunstschätze, landschaftliche Schönheiten, über das Geschäftsleben, die Bazare, über das Teppichknüpfen. Bald aber öffnete sich der Blick auch in die Armutsviertel, die Not, das Elend. Und im Kontrast dazu die Pracht des Reichtums. Man sah die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Unverständlich, daß sie nicht aufbegehrte. Aber sie fühlte offensichtlich kein Verlangen danach, wie es schien. Man sah die Pilgerscharen beim Gebet, erfuhr mehr über den Islam und stellte fest, daß Mohammed mit Christus manches gemein hat. Aber man erfuhr auch von den Schwierigkeiten im Lande, von Schiiten und Sunniten, vom religiösen Fundamentalismus, von Fanatikern, von den Kurdenverfolgungen, von Anhängern und Gegnern des Regimes. Von den Gegnern freilich etwas weniger. Zu allgegenwärtig war die Macht des Diktators, als daß man sich seiner Verfolgung ausgesetzt hätte. Aber immerhin, man machte sich ein Bild, verstand noch immer wenig, aber es war doch etwas mehr geworden. Vor allem aber hatte man eine gewisse Sympathie für die Menschen und ihre Geselligkeit gewonnen, für die Zuversicht, mit der sie ihr oft schweres Los zu tragen verstanden. Ein Bericht über ein Armenviertel von Bagdad hatte sogar zu einer spontanen Spendenaktion in den USA geführt, von der Saddam Hussein gar nicht begeistert war, was sein Ansehen in der amerikanischen Öffentlichkeit nicht gerade förderte. Zwei Jahre waren bereits vergangen seit dem Überfall auf Kuwait. Die diplomatischen Bemühungen, so aufrichtig sie betrieben worden waren, hatten wenig Erfolge aufzuweisen. Saddam Hussein machte keine Anstalten Kuwait zu räumen, aber er hatte sich immerhin gezwungen gesehen, der Entsendung von UNO-Beobachtern nach Kuwait zuzustimmen, die die Aufgabe hatten, die Einhaltung der Menschenrechte zu überwachen. Wenn sie auch nicht viel auszurichten vermochten, so war Saddam Hussein in der Willkür seiner Jagd auf Regimegegner doch deutlich eingeschränkt, und man konnte von einer gewissen Normalisierung des Lebens sprechen.

Auch die Nahostfriedenskonferenz war noch immer nicht zustandegekommen. Die UNO hatte sich von dem Argument überzeugen lassen, daß die Nahostproblematik ein vernetztes System darstelle, aus dem man nicht ungestraft Teilbereiche ausklammern könne, und hatte daher dem Begehren Saddam Husseins zugestimmt, eine Konferenz mit einem umfassenden Themenkatalog abzuhalten. Aber genau darin lag die Schwierigkeit: Man kam über die Vorverhandlungen nicht hinaus. Es gab Hindernisse über Hindernisse. Einmal war keine Einigung über den Ort der Konferenz zu erzielen, dann gab es wieder Streitigkeiten darüber, wer als Vertreter der Kurden akzeptiert würde, dann wieder waren es Bedenken hinsichtlich der Sicherheit, so daß eine Delegation ihre Mitwirkung verweigerte (Du wirst verstehen, wenn ich nicht sage, welche Delegation das war). Ja sogar die Unfähigkeit, sich über die Sitzordnung zu einigen, hatte einmal, ob Du es glaubst oder nicht, diese wichtige Konferenz in letzter Minute platzen lassen. Manchmal bekommt man schon den Eindruck, diese so seriösen Herren führen sich auf wie die kleinen Kinder. Jedenfalls war es nun schon zwei Jahre nicht und nicht zu der Konferenz gekommen, und es sollte auch in den folgenden Jahren nicht dazu kommen. Man befand sich weiterhin im Vorfeld der Konferenz. Nach drei Jahren, es war im Oktober 1993, kam man einen wichtigen Schritt voran: Man einigte sich darauf, daß es ausschließlich die Sache der Betroffenen sei, wen sie als ihren Vertreter namhaft machten, und so fand die Gepflogenheit ein Ende, daß ein Delegierter seine Teilnahme verweigerte, weil er mit seinem Gegenüber nicht einverstanden war. Allein, auch das sollte keinen Durchbruch bringen, denn weder bei den Palästinensern, noch bei den Kurden konnte man sich intern auf einen Vertreter einigen. Auch wenn sich die UNO noch so anbot, Beobachter für die Durchführung demokratischer Wahlen zur Verfügung zu stellen, es kam nicht dazu. Man stritt um den Wahlmodus, um Wahlberechtigung. Die einen wollten die Stimmberechtigung der Frauen, die anderen waren dagegen. Es ging um Machtfragen, Hahnenkämpfe, aber mit der Demokratie, die wir so nachdrücklich als Lösungsmöglichkeit anboten, hatten sie nichts auf dem Hut, oder besser gesagt auf dem Turban. Und sooft auch von den diversen Außenministern das Zustandekommen der Konferenz angekündigt wurde, man hatte sich schon daran gewöhnt, daß nichts daraus würde. Und so ging es fort und fort. Ein trauriges Kapitel der Diplomatie. Man schrieb bereits das Jahr 1996. Kuwait war noch immer nicht geräumt. Die normative Kraft des Faktischen machte die Wiederherstellung des Staates Kuwait immer unwahrscheinlicher. Saddam Hussein erfreute sich im Lande durchaus einer gewissen Anerkennung, wenn auch nicht gerade Beliebtheit. Er hatte ja auch einiges erreicht. In diesem so erfolglos scheinenden Vorfeld der Konferenz hatten so manche bilateralen Verhandlungen durchaus Ergebnisse gezeitigt, die sich sehen ließen. Mit dem allmählichen Abbau der gegenseitigen Feindbilder – auch Saddam Hussein hatte sich im dritten Jahr nach der Annexion dazu entschlossen, dem Westen, genauer gesagt den UNO-Mitgliedsländern, die irakischen Medien zu öffnen – war es möglich geworden, in Abrüstungsverhandlungen einzutreten. Saudi-Arabien hatte schon 1991 deutlich zu verstehen gegeben, daß es sich nicht mehr bedroht fühle und keinen Anlaß für den Verbleib fremder Truppen in seinem Land sehe. Und so waren denn auch die Amerikaner und die Europäer Anfang 1992 nicht ungern abgezogen.

Geblieben waren nur Seestreitkräfte im Golf und ein UNO-Kontingent zur Überwachung des Embargos. Auch auf einer anderen Ebene hatte sich einiges getan. Unter dem Druck der USA hatte sich Israel schweren Herzens entschlossen, seine Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten aufzugeben. Nach einer weitgehenden Amnestie für palästinensische Gefangene hatte die terroristische Tätigkeit der Intifada nachgelassen. Die Rolle des Saddam Hussein, die er sich als Schutzherr der Palästinenser zugedacht hatte, war mehr und mehr verblaßt, nicht zuletzt, weil er sich um des inneren Friedens willen in Kuwait gezwungen sah, seine einseitige Haltung zugunsten der Palästinenser aufzugeben und eine Mittlerrolle zwischen Kuwaiti und Palästinensern einzunehmen. Vor allem aber war seine Rolle als Wahrer der palästinensischen Interessen in dem Maß unglaubwürdiger geworden, als ausgerechnet die USA immer deutlicher diese Funktion übernahmen, indem sie in Israel auf eine liberalere Palästinenserpolitik drängten. Und in dieser allgemeinen Entspannung sah sich Saddam Hussein immer weniger zu wilden Drohgebärden gegenüber Israel veranlaßt und willigte schließlich im Jänner 1995 in die Vernichtung seines B- und C-Waffenarsenals unter UNO-Aufsicht ein sowie in die Schleifung sämtlicher Anlagen, die zur Erzeugung von Atomwaffen gedacht waren. Das wiederum brachte ihm eine deutliche Lockerung des Embargos ein, vor allem aber die Möglichkeit, durch Ölexporte zu Deviseneinnahmen zu gelangen.

Wir schreiben bereits das Jahr 2000, die Annexion von Kuwait ist bereits zehn Jahre her, und ich ziehe Bilanz. Der Aggressor Saddam Hussein erfreut sich nach wie vor einer blühenden Gesundheit und seiner Macht im Lande, gestützt auf eine willfährige und korrupte Beamtenclique und seine Eliteeinheiten, die zwar immer noch hart, aber nicht mehr mit dieser Brutalität durchgreifen wie seinerzeit. Das Militär ist stark reduziert. Wirkliche Demokratie gibt es im Irak ebensowenig wie bei uns. Aber immerhin: Unter dem Druck der Weltöffentlichkeit, vor allem der UNO, hat er den Kurden weitreichende Autonomierechte zugestanden. Die Versuche der schiitischen Fundamentalisten, den Irak zu einem Reich Allahs zu machen, hat er abzuwehren verstanden. Seit im Nachbarland Iran die fanatischen Fundamentalisten an Boden verloren haben, herrscht auch bei ihm Ruhe, und er kann seine Schiiten gewähren lassen.

Kuwait ist von der Landkarte verschwunden. Die normative Kraft des Faktischen hat sich durchgesetzt. 74 Prozent der Bevölkerung im ehemaligen Kuwait verstehen sich heute als Iraker. Nur sieben Prozent sehnen sich nach den alten Zeiten zurück. Die Bemühungen um eine umfassende Nahostfriedenskonferenz sind seit 1997 offiziell eingestellt worden. Seit 1998 gibt es mit dem Irak uneingeschränkten Waren- und Devisenverkehr, nachdem Saddam Hussein das Interesse an einer Aufrüstung seines Landes verloren hat. Der Personenverkehr wurde Ende 1996 freigegeben, worauf sich nicht zuletzt aufgrund der ausführlichen Berichterstattung über den Irak eine wahre Besucherflut über das Land ergossen hat. Die ehemaligen Herrscher von Kuwait sitzen im Westen auf ihrem Geld. Zurück ins Land können sie nur als Besucher. Sie haben sich in ihr Schicksal gefügt.

Keine sehr ermutigende Bilanz? Ich finde doch! Immerhin hat es keinen Krieg gegeben in den ganzen zehn Jahren. Keine Toten und Verwundeten, sieht man von einigen Terroranschlägen Anfang der 90er Jahre ab. Keine Verwüstungen, keine Seuchen, keine Not an Nahrungsmitteln und Trinkwasser, keine Gefangenenlager in der Wüste, keine brennenden Ölquellen. Vor allem aber ist die Gesprächsfähigkeit erhalten geblieben.


Damit bin ich am Ende meiner Phantasiereise. Ich bin wieder in einer Realität, die leider anders aussieht und für die Zukunft wenig hoffnungsfrohe Perspektiven erkennen läßt. Und ich stelle die Frage, hätte es nicht in diese Richtung laufen können? Die Antwort ist ein klares Nein. Es hätte nicht. – Ja kann denn so etwas nicht funktionieren? Oh doch, es kann! Sicher nicht genau so. Die Realität spielt immer anders als die Phantasie. Vielleicht wäre Saddam Hussein sogar zu einem Rückzug oder Teilrückzug aus Kuwait zu bewegen gewesen. Ich weiß es nicht. Und es geht mir auch gar nicht darum, Spekulationen anzustellen, was gewesen wäre wenn ... Ich bin kein Nahostexperte. Zu undurchsichtig ist mir das Ränkespiel innerhalb der arabischen Welt. Ich will lediglich zeigen, daß eine Politik, die auf Diplomatie setzt, auf das Gespräch, auf Verständigung, sich anderer Mittel bedienen muß als der militärischen Stärke und des Ultimatums. Es geht auch zunächst gar nicht um ein so hochgestochenes Ziel wie Konfliktlösung. Man spricht zu gerne von Konfliktlösung. Die mag getrost ein fernes Ziel bleiben, wenn wir nur lernen, mit Konflikten anders umzugehen, humaner, ohne die Menschenwürde mit Füßen zu treten. Die des Gegners, vor allem aber die eigene. Das Losschlagen auf den Gegner verletzt ja auch die eigene Menschenwürde. Wer wirklich auf Diplomatie setzt, darf Militär nur zur Verteidigung einsetzen, nie aber mit einem Angriff drohen, geschweige durch ein Ultimatum den Sachzwang zum Angriff schaffen. Und er muß sich in der Frage der vertrauensbildenden Maßnahmen auch wirklich etwas einfallen lassen. Er muß die ersten Schritte setzen. Und zwar großzügige Schritte, ohne stets zu fragen, ob der Gegner des Vertrauensvorschusses wohl auch würdig sei. Und noch etwas scheint uns mit unserem Gerechtigkeitsempfinden unerträglich zu sein: Die Vorstellung, daß ein Schurke auch noch in den Genuß der Früchte kommt, die seine Missetaten ihm einbringen. Einem Dieb zusehen, wie er sein Diebsgut ungestraft verzehrt: Wenn wir viel können, aber das schaffen wir einfach nicht. Ich glaube, da haben wir auch noch viel zu lernen. Wir haben es mit so viel Schurkerei zu tun, großer und kleiner, verdeckter und offener, an der wir nur wenig ändern können, daß wir aufpassen sollten, uns nicht, ohne es zu merken mit dem einen Schurken zu verbünden, indem wir gemeinsam dem anderen eine über die Rübe ziehen. Damit ist nichts getan. Vielleicht verstehst Du, was ich meine:

Ich bin mit 14-jährigen Schülern auf einem Skilager. Selbstversorgung. Aufräumen, Kochen, Geschirrabwaschen, alles machen die Schüler selbst. Auch die Organisation, wer welche Aufgaben übernimmt, ist Sache der Schüler. Drei Mädchen, die schon zum drittenmal Geschirr spülen, beklagen sich: „Immer wenn es was zu tun gibt, sitzt der Michi beim Kartenspielen!“ „Ja“, sage ich, „ich habe das auch schon beobachtet. Er tut mir leid.“ „ER tut Ihnen leid?“ sagen die Mädchen. „Und WIR? Wir tun Ihnen nicht leid?“ „Nein“, sage ich, „weil in spätestens einer Stunde habt ihr es hinter euch, aber er muß damit leben, daß es immer heißen wird, wenn es um etwas geht: Ach den Michi, den kannst Du vergessen! „Ist eigentlich wahr“, sagen die Mädchen und spülen weiter, ohne sich selbst bedauern zu müssen. Beim Großreinemachen ist Michi für die Toiletten eingeteilt. Nach fünf Minuten verkündet er „Fertig!“ und ist verschwunden. Ich sehe nach. Nichts war geschehen. Also suche ich ihn und finde ihn beim Kartenspielen. Ich zeige ihm, wie man so etwas ordentlich macht. Und wie ich wieder vorbeikomme, sage ich: „Siehst Du, Du bist ein tadelloser Häuslputzer“, und er ist so begeistert, daß er gleich im Waschraum weitermacht. Von nun an geht’s ihm besser ...

Ich weiß schon, daß Saddam Hussein ein anderes Kaliber ist. So einfach macht man den Bock nicht zum Gärtner. Aber es zeigt die Richtung an, in der man Chancen haben kann. Mit dem Niederknüppeln ist nichts getan, mit dem Verurteilen. Doch das sollte uns auch klar sein: Solange wir nicht im kleinen, in unserem persönlichen Bereich lernen, mit diesen Dingen anders umzugehen, wird sich auch in der großen Politik nichts ändern. Solange wir nicht begreifen, daß kein Mensch, der zwischen zwei Möglichkeiten wählen kann, bewußt die schlechtere wählt, solange wir nicht erkennen, daß jeder das Beste will – aus seiner Sicht, gewiß, und die muß sich mit unserer Sicht nicht decken –, solange uns nicht klar ist, daß auch der Schurke manches besser machen wollte, wenn er nur könnte, aber er ist eben nekrophil gesteuert, er hat die bessere Lösung einfach nicht in seinem Reper- toire, solange uns das nicht klar ist, werden wir nicht sehen, daß es Hilfe ist, was er braucht, nicht Strafe. Und solange wir nicht erkennen, daß jeder Mensch, jeder (!), gute und schlechte Seiten hat und es den Guten und den Bösen in Reinkultur nicht gibt, daß jeder, jeder!, seine schurkischen Seiten hat und seine zutiefst humanen, seine liebenswerten, und daß es nur eine Frage ist, welche Seiten im Leben die besseren Entwicklungschancen bekommen, und daß es an uns liegt, welche Entwicklungschancen er bekommt, solange werden wir wohl weder im kleinen noch im großen humaner und würdevoller miteinander umgehen. Es hängt eben alles zusammen: Wie wir mit unseren Kindern umgehen, unseren Partnern, unseren Freunden, unseren Widersachern, so wird sich’s auch in der großen Politik abspielen. Und mag es auch frustrierend sein, daß wir an der großen Politik nichts ändern können, daß wir nur zum ohnmächtigen Zusehen verdammt zu sein scheinen, wir können sehr wohl etwas tun: Uns selber können wir ändern, die Art, wie wir mit den Schätzen dieser Welt umgehen. Das können wir ändern. Und in dem Maß, als wir das schaffen, wird es nicht nur uns selber besser gehen. Die Summe dieser Veränderungen ergibt auch die Veränderungen in der großen Politik!

 

Kriege lösen keine Probleme?




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Zurück zum Golfkrieg. Ich habe gesagt, daß es zwar anders hätte funktionieren können, aber es hat nicht anders kommen können. Spätestens mit dem Ultimatum an Saddam Hussein, Kuwait bis zum 15.1.’91 zu räumen oder es würde mit Waffengewalt geräumt, war mir klar, daß es zum Krieg kommen würde. Es war mir klar, daß alle Beteuerungen, man suche nach einer diplomatischen Lösung, im Klartext wohl zu heißen hätten: Wir brauchen den Krieg und werden ihn auch erreichen. Aber es sollte uns auch gelingen, als die dazustehen, die sich bis zur letzten Minute unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten um eine friedliche Lösung bemüht haben. Man mußte wahrhaft kein Orientexperte sein, um all die gezielten Demütigungen zu sehen, die es Saddam Hussein unmöglich machten, das Ultimatum anzunehmen. Nein, die Strategie war mir zu durchsichtig, und ich konnte einfach nicht verstehen, wie namhafte Journalisten, Politikwissenschaftler, Nahostexperten bis zum Schluß noch an die Möglichkeit glauben konnten, der Krieg wäre zu vermeiden. Bis zur letzten Minute haben sie davon gesprochen, daß die Vernunft siegen werde, die Einsicht, daß Krieg keine Probleme löst.

Allein, diese Einsicht ist eben falsch. Kriege lösen sehr wohl Probleme. Freilich nicht die, von denen die Rede ist. Sie lösen nicht die humanitären Probleme, nicht die Probleme der Menschenrechte. Also machte ich mich auf die Suche nach den Problemen, die dieser Krieg lösen sollte, nach jenen Gruppen, die ein Interesse an diesem Krieg hätten und auch den nötigen Einfluß, um den Krieg durchzusetzen. Und siehe da, die Finger einer Hand sollten nicht ausreichen.

Da war zunächst die internationale Großfinanz. Ihre Aufgabe ist es, Geld gewinnbringend einzusetzen. Nachdem der Versuch, in den Ländern der Dritten Welt zu investieren – vor allem aus Brasilien hatte man gehofft, ein Wirtschaftswunderland zu machen, sodaß man die Milliardenkredite mit Zins und Zinseszins zurückbekommen würde –, kläglich gescheitert war, wurde SDI, das Starwarprogramm erfunden. Ein Programm, das von der atomaren Bedrohung der USA durch die Sowjetunion lebte, das die Vereinigten Staaten binnen weniger Jahre in eine astronomische Staatsverschuldung trieb, und von dem man sich erhoffte, es würde den High-Tech-Vorsprung der USA wiederherstellen, was nicht zuletzt auch auf dem zivilen Sektor zu satten Gewinnen führen sollte. Allein, mit dem Schwinden der Bedrohung durch die Sowjetunion schien auch dieses Programm zum Scheitern verurteilt. Nach Brasilien der zweite Flop in einer Höhe, die selbst für einen mathematisch geschulten Menschen unvorstellbar ist. Das Finanzsystem drohte zusammenzubrechen. Eine Weltwirtschaftskrise wäre die unausweichliche Folge, was so viel heißt wie: uns allen in der Ersten Welt würde es dann viel schlechter gehen. Nein, das durfte nicht sein. Aber wie soll man so ein Programm weiter finanzieren, wenn die Bevölkerung zu rebellieren beginnt, wenn sie sich betrogen fühlt. „Lest meine Lippen“, hatte Bush zu seinem Wahlkampfslogan gemacht, „keine neuen Steuern!“. Und nun gab es die neuen Steuern. Da war es wohl auch an der Zeit, den Beweis zu führen, daß das Ganze einen Sinn macht. Ein neuer Feind mußte her.

Und dann der ganze militärische Apparat der USA. Da hängen tausende und abertausende Existenzen dran. War das Militär nach dem Vietnamkrieg in eine arge Sinnkrise geraten, so hatte die kommunistische Gefahr, an der Spitze die Bedrohung durch die Sowjetunion, doch dafür gesorgt, daß die Bevölkerung bereit war, den ganzen militärischen Aufwand zu tragen. Aber nun, da die kommunistische Gefahr zusammengebrochen war, schwand auch die Opferbereitschaft in der Bevölkerung. Ein neuer Feind mußte her, damit die Boys ihre Daseinsberechtigung unter Beweis stellen könnten. Dasselbe galt für die Rüstungsindustrie. Sie stand genauso unter dem Zwang, ihre Effizienz nachzuweisen.

Auch begann Saddam Hussein eine ernste Existenzbedrohung für Israel darzustellen, so daß wohl auch Israel ein Interesse an dem Krieg haben mußte. Und Israel ist in der amerikanischen Außenpolitik nicht gerade eine zu vernachlässigende Größe. Das einzige, wovon bald offen die Rede war, war das Interesse am Öl, dem Schmiermittel für unsere Wirtschaft, unseren Wohlstand, unseren Lebensstil, unseren Luxus. Gäbe es in Kuwait Bananen statt Öl, war die Kurzformel, würde kein Hahn danach krähen. Der sichere und billige Zugang zu den großen Erdölvorräten dieser Welt war sicher ein starkes Motiv.

Ich kann mir aber durchaus im Verein mit dem Militär, der Rüstungsindustrie, der High-Tech-Industrie, der internationalen Großfinanz noch eine weitere, nicht zu unterschätzende Gruppe vorstellen, die ein Interesse an dem Krieg hatte: die Betreiber der Kernenergienutzung. Mag es auf den ersten Blick vielleicht so aussehen, als stelle Öl eine Konkurrenz zur Kernenergie dar, so ist doch folgende Überlegung nicht von der Hand zu weisen: Steht das Erdöl billig zur Verfügung, haben alternative Lösungen keine Chance. Keine Chance für die Nutzung von Windenergie, Gezeitenenergie, Sonnenenergie. Wasserstoff als Energieträger bleibt auf der Strecke. Die nötige Infrastruktur wird nicht entwickelt. Energiesparen zahlt sich nicht aus. All die Möglichkeiten der Wärmedämmung, Abwärmenutzung der Wärme-Kraft-Kupplung, der dezentralen Energieversorgung und vieles mehr bleiben auf der Strecke. Und in dreißig bis vierzig Jahren, wenn das Öl allmählich zur Neige geht, sind die Staaten der Ersten Welt in einem solchen Maß energieabhängig, daß die große Stunde für die Kernenergie geschlagen hat. Dann kann die Weltherrschaft der Kern-energie beginnen. Was das an Sachzwängen mit sich bringt, von der militärischen Absicherung bis zu den Geheimdiensten, will ich hier nicht beschreiben. Masochisten finden genügend Bücher, die das Szenario des Atomstaates in all seiner Menschenfeindlichkeit darstellen. Ich finde, es sollte so weit besser gar nicht kommen.

Soviel zum Interesse am Krieg vonseiten der Ersten Welt. Und die Rechnung ist auch aufgegangen: Das Öl fließt reichlich und billig, die Rüstungsindustrie schreibt satte Gewinne, die Boys von der Army werden gefeiert, die High-Tech-Programme laufen weiter, der Dollar ist gestiegen, die internationale Großfinanz hat wieder eine Hürde genommen, unser Lebensstil ist für’s erste gesichert. Wenn ich es auch für das gute Recht jeder Gruppe halte, ihre Interessen zu verfolgen, so unterscheide ich doch, ob dies getragen von Liebe und Verantwortung gegenüber Mensch und Natur geschieht, also aus biophilen Motiven, oder eben aus nekrophilen. Letzteres trifft wohl für die meisten Akteure zu, die auf diesen Krieg hingesteuert haben, ob sie sich dessen nun bewußt sind oder nicht. Nur wer nekrophil unterwegs ist, kann überhaupt Krieg als Mittel zur Lösung seiner Probleme in Betracht ziehen. Was er dabei übersieht, ist, daß es in letzter Konsequenz zur Selbstzerstörung führt. Alle Beteiligten haben ihre Probleme, die ja wohl dadurch entstanden sind, daß sie sich in die falsche Richtung bewegen, durch kräftiges Gasgeben gelöst, statt in die richtige Richtung zu lenken.

Und Saddam Hussein, wie stand es mit seinen Interessen? Er wollte sich wohl an die Spitze des heiligen Krieges der arabischen beziehungsweise islamischen Welt gegen den Way of Life der Ersten Welt stellen. Uns ist einfach zu wenig klar, welche Zumutung unser Lebensstil für diese Leute ist. Diese Seite des Krieges ist in unserem Bewußtsein tunlichst unterdrückt worden: Es war eine militärische Auseinandersetzung zwischen Erster und Dritter Welt. Wer denkt sich schon etwas dabei, wenn unsere Werbung über die Bildschirme läuft, das Feinste vom Feinen als Katzenfutter angepriesen wird, und für den eigenen Genuß das Knäckebrot, das man getrost mit Lachs, Schinken, einem Gürkchen und einer Olive garnieren kann, ohne daß das Ganze mehr Dickmacher hätte als ein normales Butterbrot? Wer denkt sich schon dabei, wie so etwas auf eine Mutter wirkt, die zusehen muß, wie ihr Kind verhungert? Oder glauben wir, diese Dinge blieben der Dritten Welt verborgen? Du wirst jetzt vielleicht sagen, der verwechselt den Irak mit der Sahelzone. Das tu’ ich nicht. Mag der Grund im Irak auch eher im Alkoholkonsum unserer Montagearbeiter liegen und in der Freizügigkeit ihrer Frauen, mit der sie sich emanzipiert gebärden und das sittliche Empfinden in dieser anderen Kultur zutiefst verletzen, der Groll gegen unseren Lebensstil ist ein gemeinsamer, quer durch die Dritte Welt. Denn wie so mancher eifrige Konsument bei uns spätestens, wenn er erkennt, daß er bis zu seiner Pensionierung für die Kreditabzahlung rackern darf, dazu neigt, die Bank zu verfluchen und den Tag, an dem er sich für den Rest seines Lebens verkauft hat, so verfluchen auch die hochverschuldeten Länder der Dritten Welt die Banken und den Tag, an dem sie sich die Daumenschrauben ansetzen haben lassen, an dem sie sich zu modernen Sklaven haben machen lassen, die arbeiten können, bis sie umfallen: Ihre Kinder kriegen sie nicht satt, weil sie Mastfutter für unsere Schweine produzieren. Das bringt Devisen, mit denen sie ihren Schuldendienst leisten können. Diese Dinge nehmen wir nicht gern zur Kenntnis. Versteht sich. Und es ist auch leichter geworden wegzuschauen, denn wir müssen unseren Sklaven nicht mehr selbst die Peitsche zeigen, das besorgen andere für uns, weit weg. Aber wir kommen auf Dauer nicht drum herum, uns um einen anderen, einen biophilen Umgang mit der Dritten Welt zu bemühen. Wir werden lernen müssen. Wir werden erkennen müssen, daß wir in der Auslage sitzen mit all unserem Luxus, und daß sich die Dritte Welt an der Scheibe die Nase plattdrückt. Milliarden hungriger Augenpaare sind auf unsere dampfenden Schüsseln gerichtet, und wenn wir uns nichts einfallen lassen, wird die Scheibe eines Tages eingedrückt. Was wir mit den Ostblockstaaten erlebt haben und erleben, ist ja nur ein kleiner Vorgeschmack. Bilden wir uns doch nicht ein, unser Wohlstand wäre militärisch abzusichern, ohne daß sich das fürchterlich rächt in Form von blindwütigen Attentaten, von Geiselnahmen, von Erpressungen. Glauben wir doch nicht, wir könnten mit der gesamten Dritten Welt verfahren wie mit ein paar tausend Albanern, die wir einfach wieder zurückschicken, ohne daß wir uns unser eigenes Gefängnis bauen, weil wir uns nur noch in unserer Ersten Welt sicher fühlen. Und selbst das ist eine Utopie, weil bei allen Anstrengungen von Interpol und Geheimdiensten – das ist eine traurige Erfahrung – der Terrorismus nicht vor unseren Grenzen Halt macht.

Entschuldige bitte! Ich hatte mir vorgenommen, keine düsteren Prophezeiungen zu machen. Und es geht ja auch darum, was wir tun können, um solches zu vermeiden. Aber es hängt eben alles zusammen. Und da in unseren Breiten der aufkeimende Terrorismus, der aus eben dieser Not entspringt, aus der Wut der Verzweiflung, gerne als die unverständlichen Wahnsinnstaten einzelner in Fanatismus verblendeter Verrückter hingestellt wird, erscheint es mir wichtig, diese Zusammenhänge klarzustellen. Die Ursache dieses Terrorismus liegt bei uns, bei der menschenverachtenden Selbstverständlichkeit, mit der wir unseren Luxus genießen! Und diese Wut ist es, dieser Mut der Verzweiflung gegen den Neokolonialismus, den wir in diesen Ländern installiert haben, den sich Saddam Hussein zunutze machen wollte. Und war die Besetzung Kuwaits auch ein reines Schurkenstück, spätestens durch das Ultimatum wurde er in die Rolle des Anführers im heiligen Krieg gedrängt, an dem alle Hoffnung der Gedemütigten hing. Und daß ihm diese Rolle eine Annahme des Ultimatums unmöglich machen würde, war klar. Es war der programmierte Krieg. Und ein programmierter Krieg findet auch statt. Noch einmal die Frage: Wäre der Krieg zu vermeiden gewesen? Und wenn ich diesmal sage: Ja, er wäre zu vermeiden gewesen, dann beeile ich mich dazuzusagen, ja, wenn wir die Akteure der Weltpolitik rechtzeitig gezwungen hätten, eine andere Politik zu machen. Und wenn sich Ähnliches nicht wiederholen soll, müssen wir uns beeilen, die Politik, die kleine wie die große, entscheidend mitzugestalten. Du und ich. Aber natürlich nicht als zwei hilflose Narren, sondern gemeinsam mit vielen, vielen solchen hilflosen Narren als eine ganz respektable Macht. Um nicht mehr und nicht weniger als um dieses Wunder geht es in „barfuß“.

 

Stehen wir vor einer biophilen Revolution?




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Eigentlich wollte ich mit Dir noch eine zweite Phantasiereise unternehmen. Die Reise zu einer Weltkonferenz über die einzig dringliche Frage: Wie schaffen wir einen Friedensschluß der Menschen untereinander und mit der Natur, die unsere Lebensgrundlage darstellt? Ich wollte die Konferenz wenigstens in der Phantasie die Beschlüsse fassen lassen, die auch künftigen Generationen noch Zukunftshoffnungen geben könnten, um dann auf unsere Realität zurückzukommen und auf die Frage, warum das alles nicht und nicht zu funktionieren beginnen will, auf Interessen und Macht, auf Wohlstandssicherung durch Militarismus und Gewalt.

Aber wozu? Ich glaube nicht, daß ich Dir noch etwas erzählen könnte, das Dir nicht längst klar ist oder zumindest dämmert. Ich bin seit langem auf der Suche nach einem Menschen, der nicht zutiefst wüßte, was gespielt wird. Ich finde niemand. Nicht die Hausfrau, nicht den Professor, den Bauarbeiter oder Zeitungsausträger, nicht die sechzehnjährige Schülerin oder die siebzigjährige Bäuerin, nicht den Arzt oder den Industriellen, dem nicht klar wäre, daß wir dabei sind, uns den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen. Alle wissen sie es: Unsere Krankheit ist diese blinde Konsumwut, der wir verfallen sind. Und alle sehen die globalen Folgen. Deswegen spreche ich hier nicht vom Ozonloch, nicht von Klimaveränderungen und ihren Folgen, nicht von der Atombombe, nicht von der militärischen und nicht von der zivilen, dem Kernkraftwerk. Das ist alles hinlänglich bekannt, ebenso wie die Ursache bekannt ist: der Wahn von der grenzenlosen Wohlstandsmehrung in der Ersten Welt. Im Gegenteil. Das alles bekomme ich bis zum Überdruß zu hören, egal mit wem ich spreche. Mehr noch: Ich stoße überall auf diese No-Future-Stimmung, diese Resignation: „Was soll’s, es geht doch alles den Bach runter.“

Deswegen sitze ich da und schreibe dieses Buch, weil das absolut nicht so sein muß. Wer sagt denn, daß nicht immer mehr Menschen beginnen, sich die Frage zu stellen:„Brauche ich das wirklich?“ Wer sagt denn, daß nicht mehr und mehr Menschen dort oder da zur Antwort finden:„Nein, das brauche ich wirklich nicht!“ Wer sagt denn, daß nicht immer mehr und mehr Menschen in unserer Luxuswelt dahinterkommen, welchen Gewinn an Lebensqualität Bescheidenheit bedeuten kann? Wer sagt denn, daß nicht gegen alle noch so ausgeklügelten Werbemethoden ein gesellschaftliches Klima entstehen kann, in dem den Menschen, die zu einem schlichten Lebensstil finden, mehr Achtung und Anerkennung entgegengebracht wird, als all jenen, die nicht mehr wissen, wie sie ihren Wohlstand zur Schau stellen sollen? Wer sagt denn, daß eine solche Wende sich nicht binnen weniger Jahre vollziehen kann, in unserer Zeit der raschen Veränderungen? Frage mich nicht, woher ich meinen Optimismus nehme, aber ich fühle einfach, die Zeit ist reif. Überreif! Es liegt einfach in der Luft.

Natürlich geht nicht alles von alleine. Deswegen sitze ich ja auch hier und schreibe. Es ist sehr viel zu tun. Aber es sind auch viele, die dazu bereit sind, die Ideen haben und Initiative. Ich glaube einfach an das ungeheure biophile Potential, von dem ich gesprochen habe. Ich glaube an die vielen, vielen Menschen, die, des Rotierens überdrüssig, sich in ihrem Denken längst entfernt haben aus dieser Mega-Vernichtungs-Maschine, in die sie, noch eingespannt, von einem anderen Leben träumen. Einem Leben, an dessen Verwirklichung sie sich noch nicht wagen, weil sie glauben, sie seien allein mit ihren Träumen. Wer hat noch nicht das Verlangen gespürt, dort oder da einfach abhandenzukommen aus diesem nekrophilen Getriebe? Ich will’s einfach wissen, wie viele bereit sind, die ersten Schritte zu unternehmen, um sich nicht dereinst von ihren Kindern sagen lassen zu müssen:„Ihr habt es gewußt, worauf eure Konsumwut hinausläuft, und habt nichts dagegen getan. Ihr habt unsere Zukunft verspielt!“ Das will ich einfach wissen. Und ich bin überzeugt, daß ich nicht der einzige bin, der das wissen will. Daher die Barfuß-Idee.

Mag sein, daß ich damit schief liege, aber es will mir nicht ins Hirn, daß eine Sache nur dann Chancen auf Erfolg haben soll, wenn dem, der mitmacht, ein Auto oder eine Traumreise in Aussicht gestellt wird. Ich will’s einfach nicht glauben, daß es heute keine anderen Möglichkeiten mehr geben sollte, Menschen anzusprechen, als über die stumpfsinnige Glücksverheißung der Fernsehwerbung, der Klassenlotterie oder all der Postwurfsendungen. Für wie dumm halten die uns eigentlich?

Aber offensichtlich haben sie Erfolg mit der Investition ihrer Werbemillionen, die Waschmittelfirmen, die Urlaubsvermarkter, die Politiker oder die Glücksspielbarone. Es sind ungeheure Scharen, die da laufen und kaufen. So unsinnig kann die Werbung gar nicht sein, daß sie nicht Erfolg brächte. Wenn ich aber mit den Menschen spreche, mit eben den Menschen, die da laufen und kaufen, dann finde ich sie so dumm nicht, wie die Werbung vermuten ließe. Im Gegenteil: Vielleicht oft gedankenlos, vielleicht festgefahren im täglichen Trott, vielleicht verstrickt in tausend Sachzwänge, frustriert, enttäuscht durch die vergebliche Suche nach dem bißchen Lebensglück. Das ja. Aber doch nicht dumm! Man muß wahrhaft nicht dumm sein, um einem so ausgekochten System ins Fangnetz zu geraten. Ach wie oft bin ich ihnen ins Netz gegangen! Und ich hänge auch noch ganz schön drin. Das ist es ja, warum mir so daran liegt, daß ein Klima entsteht, in dem die Befreiung leichter fällt.

Nein, dumm sind sie nicht. Aber gelähmt. Gelähmt bei all ihrer Geschäftigkeit. Gelähmt ist die Phantasie, die Zuversicht. Gelähmt ist die Bereitschaft, etwas zu tun für die Zukunft, an die ohnehin keiner glaubt. „Wenn schon nichts dagegen zu machen ist, daß der Kapitän Kurs auf den Eisberg nimmt, so will ich wenigstens die Zeit, die noch bleibt, alle Vorzüge des Luxusdampfers genießen, auf dem ich mich befinde.“ Das ist die Grundstimmung, die mir entgegenschlägt. Sie ist eine nur zu menschliche Reaktion. – Anders allerdings, wenn sich herumspricht, daß der Kapitän sehr wohl zu einer Kursänderung zu bewegen ist. Den möchte ich sehen, der auch dann noch lieber bei Tanzmusik und Kaviar dem Ende der ganzen Unternehmung entgegenfrustet.

Daher die Barfuß-Idee. Es sollte sich doch herumsprechen, daß wir nicht dazu verdammt sind, das Steuer dieses Raumschiffes Erde ohnmächtig einer Crew zu überlassen, die auf Kollisionskurs geht. Ohnmächtig, weil wir uns einsam fühlen auf weiter Flur mit unserer Ahnung und unserer Sehnsucht nach einem anderen, einem freundlicheren, einem erfüllteren Leben. Ohnmächtig, weil wir noch immer an diese Ohnmacht glauben, statt die Lebenskraft in uns zu entdecken und zu entfalten. Diese Lebenskraft, die imstande ist, ein noch so unmenschliches System mit seiner rundherum abgesicherten Herrschaft über uns, unsere Körper, unseren Geist und unsere Seelen einfach abzuschütteln. Abzuschütteln, wie es uns das Beispiel der Revolutionen in der DDR und der CSSR gezeigt hat. Es sollte sich doch weisen, ob in unserer Wohlstandsgesellschaft wirklich nur Verlockungen noch in der Lage sind, Menschen zu bewegen! Das ist es, was ich einfach nicht glauben will, wo ich mich hartnäckig weigere zu resignieren. Ich weiß doch zu genau, unter welcher Existenzbedrohung sich die Menschen gefunden haben, die diese Revolutionen im Osten möglich gemacht haben. Wir wissen doch alle, welche Opfer gebracht wurden, unter welch offensichtlich chancenlosen Bedingungen sie begonnen haben, sich gegen eine erdrückende Übermacht barfuß zu formieren. Und sie haben barfuß gewonnen. Das sollte mich nicht ermutigen? Uns alle nicht ermutigen, die bequeme Ausrede unserer Ohnmacht einfach abzustreifen und den Mut zu fassen, unser Schicksal in die Hand zu nehmen? Nein, ich weigere mich zu resignieren. Ich weigere mich, zu akzeptieren, daß der Wohlstand und ein noch so aufwendig und raffiniert betriebenes Verlockungs- und Verführungssystem auf Dauer in der Lage wären, den Glauben an eine Zukunft, das Vertrauen in die eigene Lebenskraft und vor allem die Bereitschaft, Opfer zu bringen, lahm zu legen. Daher diese Barfuß-Idee, die sich bemüht, das verschüttete Wissen um ein biophiles Leben, das in uns allen schlummert, freizulegen.

Aber eben nicht mit leeren Versprechungen. Im Gegenteil. Der Preis, der zu zahlen ist, sollte klar sein. Wer sich Illusionen hingibt, sollte lieber die Finger davon lassen. Und es ist eine Illusion zu glauben, daß alle, die an diesem System verdienen, kampflos den Rückzug antreten werden. Es ist eine Illusion anzunehmen, daß eine Interessensgemeinschaft, die bereit ist, Milliarden in einen Golfkrieg zu investieren, eine Interessensgemeinschaft, die sich den Luxus eines Club of Rome finanziert, der ihr sehr deutlich die Konsequenzen ihres Handelns vor Augen führt, und die dennoch unbeirrt in ihrem nekrophilen Tun fortfährt, nein, es ist eine Illusion, anzunehmen, daß eine solche Interessensgemeinschaft auch nur die leisesten Skrupel haben könnte, jedes ihr zur Verfügung stehende Machtmittel zu ergreifen, um uneingeschränkt weitermachen zu können. Und ihre Machtmittel sind nicht zu unterschätzen. Wer sich nicht zumutet, Hohn und Spott kübelweise zu ertragen, wer nicht damit rechnet, diffamiert zu werden, ja kriminalisiert, wer so naiv ist zu glauben, eine Geheimpolizei würde ihrer Aufgabe nicht mit Eifer nachkommen, so lange im Privat- und Berufsleben unliebsamer Personen herumzuschnüffeln, bis sie ihnen einen Prozeß anhängen kann oder einen Anlaß zur Zwangspsychiatrierung provoziert, wer glaubt, all das habe es nur in kommunistischen Ländern gegeben oder in schlechten Krimis, der sollte sich in Sachen Barfuß-Idee besser nicht zu sehr exponieren. Natürlich wird niemand Verfolgung erleiden müssen, weil er beginnt, Dinge, die er nicht braucht, auch nicht zu kaufen, oder weil er sich entschließt, den Urlaub zu Hause zu verbringen. Wer aber aktiv an der Verbreitung dieser Idee mitwirkt, Bürgerinitiativen, Demonstrationen und dergleichen mehr organisiert, der sollte sich nicht dem Irrtum hingeben, die Tatsache, daß er sich im Rahmen der Gesetze bewegt, und daß sein Tun einem guten Zweck dient, würde ihn vor Repressionen schützen. Das ist eine sehr traurige und zugleich sehr hoffnungsvolle Erfahrung, die ich in meinem Freundeskreis machen konnte: Ein nekrophiles und korruptes System fürchtet nichts mehr als einen anständigen Menschen in seinen Reihen und ist ungeheuer erfinderisch in dessen Verfolgung. Die hoffnungsfrohe Erfahrung war, daß der Mann während der schweren Jahre der Verfolgung standhaft geblieben ist, das Wechselbad von Repression und korrupten Angeboten, wenn auch gezeichnet, so doch moralisch heil überstanden hat, und daß er schließlich Sieger geblieben ist. Geschafft hat er es nicht zuletzt, weil anständige Menschen auch anständige Mitstreiter finden. Auch das gibt es.

Ich schreibe das, weil gerade anständige Menschen leicht zu einer gewissen Naivität neigen. Aber ich schreibe das auch, weil ich niemanden zur Barfuß-Idee verführen will. Ich will nicht überreden. Ich will ansprechen. Die ansprechen, die etwas davon schon in sich tragen. Die ansprechen, die sich mit ihren Gedanken einsam fühlen, so wie auch ich mich lange einsam gefühlt habe. Und ich will vor allem eines wissen: Sind wir wirklich so eine verschwindende Minderheit? Dann müßte ich mich wohl der Mehrheit fügen und den demokratischen Beschluß zum kollektiven Selbstmord zur Kenntnis nehmen. Aber wenn schon, dann will ich einen bewußten demokratischen Beschluß. Eine bewußte Entscheidung und nicht das Produkt der Gedankenlosigkeit. Ich will, daß unser Lebensstil zum Thema wird!

Sind wir wirklich so eine verschwindende Minderheit oder stehen wir am Beginn einer Bewegung, einer friedlichen Revolution? Das will ich wissen. Und weil mich nicht interessiert, ob ein geschickter Verlag beschließt, mit großem Aufwand ein Buch zum Bestseller zu machen, wirst Du dieses Buch wohl kaum in der Auslage eines Buchladens finden. Du hältst es in Händen, weil ein Bekannter es Dir geschenkt hat, dem beim Lesen die Idee gekommen ist, das könnte etwas für Dich sein. Und vielleicht fällt auch Dir jemand ein, dem Du es gerne schenken würdest. Das ist ein Teil der Barfuß-Idee. Denn es macht einfach einen Unterschied, ob man zu einem Buch kommt, weil es gut beworben wurde, oder ob es ein persönliches Geschenk ist. Es macht einen Unterschied, ob die Katze im Sack gekauft wird, oder ob man ein Buch schenkt, weil man damit auch etwas von seinen eigenen Gedanken und Überzeugungen weitergibt. Mir geht es darum, daß Erfolg oder Mißerfolg des Buches darüber Auskunft geben, ob die Revolution der materiellen Bedürfniseinschränkung Chancen auf Erfolg hat, und nicht darüber, ob Verlag und Buchhandel ihr Geschäft verstehen. Deshalb habe ich diese Form der Verbreitung gewählt.

Vielen meiner Freunde hat diese Erklärung nicht gereicht. Manche sahen darin eine selbstgewählte Hürde, was es ja auch ist. Andere sahen darin einen gewissen Hang zum Besonderen, den sie mit dem Anspruch des Buches schwer in Einklang bringen konnten. Ich kann selber nicht genau sagen, was mich so an der Idee festhalten läßt, „barfuß“ müsse sich als Geschenk unter Freunden und Bekannten ausbreiten. Wahrscheinlich sind es meine Vorbehalte gegenüber diesem verbreiteten Streben nach raschem Erfolg, neben dem Dauerhaftes und Nachhaltiges nur schwer heranreifen kann. Ich will diese schnellebige Zeit nicht um ein weiteres Strohfeuer bereichern. Dazu ist mir das Anliegen zu wichtig. Und gerade weil die Zeit drängt, will ich behutsam und in aller Besonnenheit an die Sache herangehen, damit sie sich auch entfalten kann.

Natürlich bin ich nicht frei von Eitelkeit und wünsche mir mit „barfuß“ viel Erfolg. Aber es geht nicht um meinen Erfolg. Es geht um den Erfolg einer Idee. Es geht um den Beitrag zu einer friedlichen Revolution, die längst in der Luft liegt und die alles andere ist als meine Erfindung. Ich bin sicher, es findet sich in „barfuß“ kein Gedanke, der nicht schon hundertfach gedacht worden wäre. Ich habe die Gedanken nur zu Papier gebracht, damit sie auch greifbar werden. Und auch angreifbar. Damit die Auseinandersetzung mit ihnen auch wirklich stattfinden kann. Und damit all die Menschen auch zusammenfinden, die diese Gedanken längst denken, denen diese Gefühle längst vertraut sind, und die – wie auch ich durch viele Jahre in dieser Umgebung von Machtgier und Konsumrausch – vereinsamt sind, weil sie die Sprache verloren haben, diesen Schlüssel zur biophilen Seite ihrer in dieses nekrophile Räderwerk geratenen Mitmenschen. Wenn das je stattfinden soll, wenn das Eis je schmelzen soll, unter dem sie noch liegen, die vielen Ansätze biophilen Lebens, dieses Eis der Vereinsamung, das Eis der Hoffnungslosigkeit und des Ohnmachtsgefühls, das Eis der Sinnleere, dieses Eis der Betriebsamkeit, in der der Nachbar den Nachbarn nicht mehr wahrzunehmen vermag, wenn es je zu dieser Bewegung kommen soll, zu dieser friedlichen Revolution, zu dieser Handreichung aller, die dabei sind, die Entdeckungsreise anzutreten hin zu einem schlichten, biophilen Leben, die Handreichung aller, die die Ahnung in sich tragen, daß sie im Leben mehr erwarten dürfen als materiellen Erfolg, wenn diese Handreichung aller stattfinden soll, egal, ob sie nun schon ein gutes Stück auf dieser Entdeckungsreise unterwegs sind oder sich, von Zweifeln geplagt, noch nicht so recht daranwagen, wenn all das stattfinden soll, dann bedarf es zu den vielen Initiativen lebensfroher Menschen, die es schon gibt auf dieser Welt, noch vieler weiterer. Der Katalog der Hoffnung muß fortgeschrieben werden. Vielleicht kann auch hier „barfuß“ einen bescheidenen Beitrag leisten. Den Verkaufserlös will ich gerne dafür zur Verfügung stellen.

Mir ist schon klar, daß diese Barfuß-Idee nicht in der Lage ist, all die Probleme, vor denen wir stehen, zu lösen. Auch das gehört wohl zur Bescheidenheit, daß wir die Anmaßung, dieses Selbstverständnis des Machers ablegen, das sich in unserer Ersten Welt so breitgemacht hat, und mit dem wir uns berufen fühlen, die Welt in Ordnung zu bringen, ihr die neue Weltordnung zu verpassen. Nein, mehr als ein bescheidener Beitrag kann und will diese Barfuß-Idee nicht sein. Vor allem nicht die Anmaßung, die Probleme lösen zu wollen. Aber sie sollte doch in der Lage sein, die größten Probleme unserer Zeit etwas zu entschärfen. Einen Silberstreif am Horizont sehe ich allerdings erst, wenn unsere Erste Welt zu einem bescheideneren Lebensstil findet. Das gilt für die ökologische Krise. Es gilt für die Kluft zwischen reich und arm, zwischen jung und alt, zwischen Mehrheit und Minderheit. Es gilt für den Konflikt zwischen Erster und Dritter oder Vierter Welt. Das gilt für die Neigung, Konflikte kriegerisch zu lösen, oder durch Terrorismus. Es gilt für die Bevölkerungsexplosion wie für die neue Völkerwanderung: Einen Silberstreif am Horizont sehe ich erst, wenn die Erste Welt den bescheidenen Lebensstil entdeckt, denn das alles und noch viel mehr hängt damit zusammen. Vor allem die Zuversicht und der Glaube an eine Zukunft. So paradox es klingen mag: Wenn wir unsere Gigantomanie und den Wahn, alles in den Griff bekommen zu müssen, überwinden und den Mut zu den kleinen, bescheidenen Schritten finden, werden wir die Zuversicht wiedergewinnen. Denn der ökologische Kollaps ist nicht unausweichlich. Noch nicht!

Dieses Bewußtsein allein sollte schon so manches ändern. So bin ich zum Beispiel überzeugt, daß die Drogenszene unter Jugendlichen wohl weniger Zulauf findet, wenn zukunftsorientiertes Handeln wieder Sinn bekommt, wenn die Eltern beginnen, ein für ihre Kinder nachvollziehbar sinnerfülltes Leben zu führen. Befreien wir uns aus dieser nekrophilen Mega-Vernichtungs-Maschinerie, indem wir entdecken, was wir alles nicht brauchen, und wo wir getrost abhandenkommen können. Der Markt wird ein Gesundschrumpfen überleben, und uns wird ein menschenwürdiges Auslangen allemal bleiben, wenn wir die Rahmenbedingungen mitgestalten. Wir müssen nur eines erkennen: So mächtig sind sie alle nicht, denen wir ohnmächtig ausgeliefert zu sein scheinen. Ihre Macht reicht nicht einen Millimeter weiter, als unser eigener Konsumwahn uns fesselt. Wenn wir aufhören, da mitzuspielen, ist’s vorbei mit ihrer Macht. Dann bleiben sie sitzen auf ihrem Plunder. Dann hört der Raubbau auf und die Umweltzerstörung. Dann ist Schluß mit der Geiselnahme. Denn wir sind die Geiseln dieses Systems. Gefesselt und geknebelt in unzähligen Abhängigkeiten und geschickt herbeigeführten Sachzwängen. Gefesselt und gelähmt durch die täglich auf’s neue verabreichte Giftpille Existenzangst. Befreien müssen wir uns selbst. Solange wir das nicht in Angriff nehmen – nicht in einer Ho-Ruck-Aktion, sondern in vielen kleinen Schritten vieler kleiner Leute – haben sie alle Macht über uns.

Wie aber, fragst Du wohl nur zu berechtigt, soll so etwas funktionieren? Wie will denn diese Barfuß-Idee je über das Stadium völliger Bedeutungslosigkeit hinauswachsen? Ja sieht denn der nicht, daß auf jeden einzelnen, der vielleicht die Konsumwut überwinden mag, zehn andere kommen, die erst ihren Nachholbedarf zu stillen haben? All die Legionen von Aufsteigern, die in ihrer Kindheit unter der Zurücksetzung und Schmach ärmlicher Verhältnisse gelitten haben? Das sitzt tief drinnen! Sie haben nur ein Ziel vor Augen, nämlich sich und der Welt zu zeigen, daß sie es zu etwas gebracht haben und sich Luxus leisten können. Ja sieht er denn nicht die Millionen von Menschen in den Oststaaten, die verständlicherweise keinen sehnlicheren Wunsch haben, als all den Konsum, der ihnen vorenthalten war, so rasch wie möglich nachzuholen? Ist der Konsumrausch nicht etwas, das man erlebt und ausgekostet haben muß? Ist er nicht wie eine Krankheit, die man durchlitten haben muß, um gegen sie immun zu werden? Wie soll da aus der Barfuß-Idee eine Bewegung werden, diese Revolution der materiellen Bedürfniseinschränkung? Ja erkennt er denn nicht den späteren Streich, den uns die monarchistische und feudalherrschaftliche Weltordnung noch heute spielt? Wir leben in dem Wahn, wir hätten sie überwunden. Indes hat die Nachahmung feudalherrschaftlichen Lebensstils noch nie so breite Kreise erfaßt wie heute! Ja sieht er das alles nicht? Allein der Freizeitbereich bringt Milliarden-umsätze und eine Umweltbelastung ungeahnten Ausmaßes. Luxuriöse Fernreisen, Jagd, Safari, Golf, Reiten, Wassersport, Wintersport. Das ist heute gefragt. Das bringt gesellschaftlichen Status!

Und da soll diese Barfuß-Idee eine Chance haben? Wie sollte sie denn selbst in so einem kleinen Land wie Österreich fußfassen, noch dazu barfuß fußfassen, in einer Zeit, in der, wie es aussieht, die Stiefel wieder in Mode kommen? Wie will sie da die ganze Erste Welt erfassen? Denn das müßte sie ja wohl, wenn sie überhaupt einen Sinn haben soll! Ist nicht diese Barfuß-Idee der eigentliche Größenwahn, die eigentliche Überheblichkeit?

Mag sein. Ich weiß es nicht. Mit diesen Fragen habe ich mich jahrelang herumgeschlagen und bin zu keiner Antwort gekommen. Ganze Kataloge von hoffnungsfrohen Initiativen habe ich gesammelt, von positiven Entwicklungen der letzten hundert Jahre, einen Katalog von Indizien und Argumenten, die dafür sprechen, daß eine solche biophile Revolution stattfinden wird. Vielleicht habe ich das gebraucht, um mir selber Mut zuzusprechen. Im Endeffekt aber bringt das alles nichts. Ich werde Dich daher mit all den hoffnungsfrohen Anzeichen verschonen, sei es nun die Deutsch-Französische Freundschaft nach jahrhundertealter Erbfeindschaft, sei es die fortschreitende Einigung auf Menschenrechte, die Abschaffung der Sklaverei oder auch nur die steigende Zahl von Radfahrern, die mir begegnet, oder die jungen Eltern, die ihre Kinder am Körper tragen. Ich werde Dich damit verschonen, denn jedes Beispiel findet auch ein Gegenbeispiel, jedes Argument ein Gegenargument, und zu jedem Trend läßt sich auch der gegenläufige nachweisen.

Sicher ist es schön, wenn Kinder getragen werden, denn wenn sie diese Geborgenheit und Wärme erleben, entwickeln sie eine Lebenskraft und ein solches Urvertrauen in diese Welt, daß sie es später kaum nötig haben, andere zu bevormunden und zu unterdrücken oder sich Besitz und Macht anzueignen, getrieben von dem vergeblichen Bemühen, ein krankhaftes Sicherheitsbedürfnis zu stillen. Da liegt viel Hoffnung drin. Ich sehe aber auch Eltern, die gestreßt, von Existenzängsten geplagt, im Daseinskampf rotieren und sich pflichtbewußt noch den schreienden Balg umhängen. Sie täten wohl besser daran, ihn in die Wiege zu legen. Es muß eben alles, was fruchten soll, bei einem selber beginnen. Nur wenn es den Eltern gelingt, ihr eigenes Leben biophil zu gestalten, kann das Kindertragen zum Segen werden. Und so gibt es überall ein Wenn und ein Aber, eine positive und eine negative Seite, zu jedem Argument das Gegenargument: Der steigenden Zahl von Radfahrern steht ein Rekord an Neuwagenzulassungen gegenüber, der Abschaffung der Sklaverei die neue Sklaverei in der Dritten Welt, der Einigung auf Menschenrechte steht eine endlose Liste von Menschenrechtsverletzungen gegenüber und der Deutsch-Französischen Freundschaft eine immer größere Zahl nationalistisch und religiös motivierter Kriege.

Nein, mit dieser Argumentation kommen wir nicht voran. Die Chancen der Barfuß-Idee lassen sich nicht berechnen. Wenn es für Dich wichtig ist, sie abzuschätzen, dann mußt Du das schon selber tun. Ich kann Dir dabei nicht helfen. Ich bin kein Prophet, ich weiß es nicht. Es bleibt eine Frage des Glaubens. Es kommt letztlich darauf an, wie Du es sehen willst. Es bleibt Deine freie Entscheidung, ob Du das Wachstumsrisiko und das Risiko des Fortschrittsglaubens eingehst, oder ob Du Dich auf die materielle Bedürfniseinschränkung einläßt und auf das Risiko, daß daraus nicht die große Revolution wird. Du gibst Dir die Antwort selbst. Ich für meinen Teil habe mich entschlossen, an Wunder zu glauben, und seither geht es mir besser. Viel besser!


Als die beiden Alpinisten Paulcke und Zsigmondy sich aus Skandinavien Ski schicken ließen, um sie auf ihre Tauglichkeit als Fortbewegungsmittel im winterlichen Hochgebirge zu testen, und dazu den schwierigen Ankogel (3250 m) auserkoren hatten, mußte diese Unternehmung zu einem einzigen Fiasko werden. Ihr Urteil war vernichtend und sollte die Entwicklung im alpinen Skisport um Jahre verzögern, waren sie doch nach unzähligen Stürzen mit knapper Mühe den Lawinen entkommen. Heute sind Alpen-Längs-Überschreitungen mit Ski vom Wienerwald bis Nizza längst keine Besonderheit mehr, und der Massenskisport hat bereits Ausmaße erreicht, die jenseits des Erträglichen liegen. Ich bringe dieses Beispiel aus der Skigeschichte, weil es doch einiges aussagt, das auch auf die Barfuß-Idee zutrifft: Erstens, das Betreten von Neuland ist zwangsläufig mit Fehlschlägen verbunden, auf die die Skeptiker nur warten. Zweitens, auch diese Fehlschläge können die Verbreitung einer faszinierenden Idee bestenfalls bremsen, nicht aber aufhalten. Drittens, die beste Idee ist nicht gefeit vor ihrer Übertreibung, ihrer Perversion ins Nekrophile. Hier liegt meine Sorge. Die Sorge nämlich, daß sich ein neuer Standesdünkel der „Bescheidenen“ herausbildet, die auf all jene, die noch etwas nachzuholen haben, mit arroganter Verachtung herabblicken, wenn nicht gar mit Groll. Ich fürchte eine unheilvolle Gegnerschaft zwischen Konsumierern und fanatischen Weltverbesserern, die alles andere als ein nachahmenswertes Beispiel biophiler Lebensgestaltung abgeben. Das ist meine Angst, die ich jetzt schon habe, jetzt, wo noch in den Sternen steht, ob wir eine Wende zur Bescheidenheit überhaupt schaffen. Jetzt schon fürchte ich die neue Macht, die ich so herbeisehne, weil es allmählich an der Zeit wäre, die Politiker aus ihrer Rolle als Systemagenten und Vollzugsorgane der heute Mächtigen zu befreien und ihnen die Möglichkeit zu geben, all die Dinge auch zu tun, von denen sie so gerne reden. Ich fürchte, auch eine neue Macht der Barfüßigen könnte in Korruption und Selbstgefälligkeit enden. Ich fürchte, daß sie einmal mehr diese Überheblichkeit entwickelt, in Täter und Opfer einzuteilen, in Schuldige und Unschuldige. Ich fürchte, daß angesichts des Ausmaßes irreparabler Schäden einmal mehr die Rachegelüste in den Mantel der Gerechtigkeit schlüpfen, und die „Schuldigen“ vor Gericht gezerrt werden. Ich fürchte, daß einmal mehr der alte Mechanismus wirksam wird, dieser unheilvolle und hoffnungslose Versuch, sich selber rein zu waschen, indem man den Sündenbock verprügelt. Denn die „Schuldigen“ in diesem Spiel sind nicht nur die Banker, die Manager in den Chefetagen der Konzerne, die Macher, die Militärs, nein, die Schuldigen sind wir alle. Nicht nur, weil wir dieses nekrophile Spiel zugelassen haben. Wir haben nach Kräften mitgespielt!

Das Ziel einer biophilen Revolution, in den Demokratien der Ersten Welt zu jenem Machtfaktor zu werden, der die ökologischen und sozialen Notwendigkeiten auch durchsetzen kann, ist gleichzeitig ihre größte Gefahr: Die Verlockung, Macht zu mißbrauchen, sie nekrophil einzusetzen. Daher meine ernste Warnung vor dem Verlust der Biophilie, denn sie ist eine Lebenskunst, die unsere ganze Wachsamkeit erfordert und wie ein Gralsschatz gehütet werden will.

Diese Mahnung ist alles, was ich der Barfuß-Idee, die nur so stark sein kann, wie sie sich ihrer Zerbrechlichkeit bewußt ist, an Schutz mitgeben kann, wenn ich sie auf ihre Reise entlasse, wie ein Kind, das seinen eigenen Weg finden muß.

 

Epilog: 22 Jahre später




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„Die Zeit ist reif“ war der wohl etwas zu optimistische Befund vor bald einem Vierteljahrhundert. Ist sie es heute? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass das Thema heute wichtiger ist denn je. Noch nie hat sich so viel verändert, wie in den letzten zwanzig Jahren. Die Bilanz ist gemischt. Lass uns mit den negativen Entwicklungen beginnen, dem Minus:

 

Wie steht es heute um die Gerechtigkeit, die Bereitschaft zu teilen?

Schlecht! Die Kluft zwischen Arm undReich ist unglaublich größer geworden. – Dem Ghetto der wenigen Superreichen stehen immer mehr Mittellose gegenüber. Dazwischen bemüht sich die Politik um die Aufrechterhaltung einer schrumpfenden Mittelschicht, deren Aufgabe es ist, für den Konsum zu sorgen, ohne den es keine Zunahme des Reichtums gibt.

 

Wie steht es um die Erkenntnis, dass grenzenloses Wirtschaftswachstum in dem begrenzten System Erde nicht möglich ist, und dass Wirtschaftswachstum zwangsläufig mit einer Zunahme der Umweltbelastung verbunden ist?

Das Thema wird hartnäckig ignoriert, denn ohne Wirtschaftswachstum gibt es auch keine Zunahme des Reichtums.

 

Wie steht es um die Biophilie, um die Chancen auf ein geglücktes Leben?

Arbeitslosigkeit und Existenzangst nehmen zu und damit die Bereitschaft, unterbezahlte Jobs anzunehmen. In dieser Atmosphäre von Ausbeutung und Selbstausbeutung nehmen Stress und Burnout ständig zu. Den Hinweis, wer davon profitiert, kann ich mir ersparen.

 

Wie steht es um die Bereitschaft der Politiker, die Verantwortung für eine biophile Entwicklug, für das Gemeinwohl, zu übernehmen?

Das vorrangige Interesse der herrschenden Politiker ist der Machterhalt. So wie einst die Aristokratie ihre Macht durch ein Bündnis mit dem Klerus abgesichert hat, so ist es heute das Bündnis mit dem Kapital, das den Machterhalt sichern soll. Für das Volk bleiben da kaum mehr als leere Versprechungen übrig.

 

Wie steht es um die Entwicklung des Rechtswesens hin zu einem ökologischen und sozialen Wirtschaftssystem, zu mehr Transparenz und mehr demokratischer Mitbestimmung?

Schlecht! Immer mehr internationale Abkommen werden möglichst unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgeschlossen. Tendenz dieser Verträge: Privatisierung öffentlicher Güter, Befreiung der Wirtschaft von jeglicher Rücksichtnahme auf ökologische und soziale Belange. Wer sich die entsprechende Lobby leisten kann, kann auch Unrecht zu Recht machen!

 

Wie steht es um das „antizipatorische Lernen“ der Politiker, um ihre Fähigkeit, kritische Entwicklungen zu erkennen und rechtzeitig gegenzusteuern?

Ich kann mir die Antwort sparen. Politiker, die mit ihrem Machterhalt befasst sind und der schwierigen Aufgabe, ihr Bündnis mit dem Kapital als Dienst am Volk zu verkaufen, wie sollen die auch noch diese anspruchsvolle Aufgabe schaffen?

 

Wie steht es um die Menschenrechte in der Europäischen Union?

Nicht zum Besten. – Die Rettung in Seenot geratener Menschen zur Straftat zu erklären, war wohl eine rekordverdächtige Menschenrechtsverletzung. Der Eifer mit dem vonseiten der EU auf Menschenrechtsverletzungen anderer hingewiesen wird, erinnert stark an den Versuch, nach dem Motto „haltet den Dieb“, von eigenem Versagen abzulenken.

 

Die Liste negativer Befunde ließe sich noch fortsetzen, etwa über die Rolle der Banken, den Aktienmarkt, das System der Geldwäsche, die Steueroasen et cetera. Im Gründe sind das alles logische Folgen der Plutokratie, dieser Geldherrschaft, die sich unserer Repräsentativen Demokratien bemächtigt hat.

 

Nun aber zu den hoffnungsfrohen Entwicklungen!

 


Zum Abschluss ein nicht mehr ganz so besorgter Brief an unsere Enkel und Urenkel.

 

Möget ihr dereinst milde gestimmt auf uns zurückblicken.

Wir haben gesündigt und sündigen noch. Wir wollen es nicht wahr haben, aber wir wissen es.

Gier und Allmachtswahn haben uns geleitet und leiten uns noch. Wir wollen es nicht wahr haben, aber wir wissen es.

Wir sind drauf und dran, uns am Genozid der eigenen Nachkommem schuldig zu machen. Wir wollen es nicht wahr haben, aber wir wissen es.

Noch ist es nicht zu spät. Noch ist Zeit zur Besinnung. Noch besteht die Chance, euch einen bewohnbaren Planeten zu hinterlassen. Die Vorstellung, dereinst von euch verflucht zu werden, wäre schrecklich!

Eure noch hoffnungsfrohen Altvorderen


Was soll der Quatsch? Wir, wir, wir! Nicht wir, das sind die Multis, die unfähigen Politiker, das weiß doch jeder! Die WTO, die Weltbank, die G7 oder 20 und wie sie alle heißen, diese Abzocker, aber doch nicht wir!!! Oder ... ?

















 

 

Impressum




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(Aktualisierte Version)

 

Eigentümer, Herausgeber und Verleger:
Gerhard Winter
Weingartenweg 16, 8020 Graz, Österreich

 

Umschlagfoto:
Hans Gsellmann

 

Umschlaggestaltung:
Wolfgang Winter

 

Gesamtherstellung (des Buches):
Druckwerk - Verein für Medienarbeit
Ungergasse 7, 8020 Graz, Österreich
Printed in Austria

 

ISBN 3-9500196-0-X

 

© 1992–2014 Gerhard Winter, Graz, Österreich

Nachdruck des Buches nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Genehmigung des Autors.
Zitieren Sie nach Herzenslust – aber zitieren Sie bitte korrekt! Alle nötigen Angaben finden Sie hier.

 

Da das Buch vergriffen ist, werden Bestellungen nicht mehr bearbeitet (;-D)

 

Herstellung der HTML- und PDF-Version von „barfuß“:
STEINHUBER INFODESIGN, Graz / Österreich
 

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